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Die Witwe erschrickt, rennt nach Tellern. Grischa ist ein Stiller mit einem dauerhaften Schmunzeln um den Mund, seine Stimme knarrt tief, er gibt acht, daß wir alle gleichmäßig vom Brot und den Heringen bekommen. Der kleine, kahlgeschorene Jascha lächelt und nickt nach allen Seiten. Die beiden stammen aus Charkow. Ich kam langsam mit ihnen ins Schwätzen, dolmetschte zwischen Herrn Pauli und den Russen. Wir trinken einander zu. Der Sibiriak Petka lärmt voll Behagen.

Ich horche immer wieder zur Tür hin und spähe auf die kleine Damenarmbanduhr an Jaschas Arm. Jeden Augenblick erwarte ich Anatol, den herbestellten Oberleutnant - mit Bangen, denn ich befürchte Streit. Petka ist zwar baumstark und sauber gewaschen, aber ein Primitivling und Hundsgemeiner, kein Schutz. Von einem Oberleutnant dagegen verspreche ich mir eine Art von Tabu. Der Entschluß steht bei mir fest. Es wird mir schon etwas einfallen, wenn es soweit ist. Ich griene in mich hinein, komme mir vor wie eine auf der Bühne agierende Person. Was gehen mich die alle an! Bin noch nie so weit von mir selber weg gewesen und mir so entfremdet. Alles Gefühl scheint tot. Einzig der Lebenstrieb lebt. Die sollen mich nicht zerstören.

Unterdessen hat Grischa sich als »Buchhalter« vorgestellt. Auch unser Herr Pauli, Industriekaufmann, bekennt sich als Buchhalter. Grischa und Herr Pauli haben beide flott getrunken. Sie fallen sich um den Hals, jauchzen: »Ich Buchhalter, du Buchhalter, wir Buchhalter!« Der erste deutsch-russische Verbrüderungskuß klatscht auf Paulis Wange. Bald ist Pauli stockbetrunken, er ruft uns hingerissen zu: »Sind doch dolle Kerle, diese Russen, da steckt Saft und Kraft drin!«

Wieder leeren wir eine Gläserrunde auf die internationale Buchhalterei. Selbst die Witwe wird nun munter und vergißt vorübergehend, daß auf ihrer polierten Tischplatte Heringe zersägt werden. (Um die Teller kümmert sich keiner der Burschen.) Ich trinke sehr mit Maßen, tausche heimlich die Gläser aus, will meinen Verstand für nachher zusammenhalten. Wir sind von kranker Lustigkeit, vor allem wir beiden Frauen. Wir wollen vergessen, was vor drei Stunden geschah.

Draußen Dämmerung. Nun singen Jascha und Petka etwas Melancholisches, Grischa brummelt nur so mit. Herr Pauli ist in selig aufgelöster Laune. Es ist ein bißchen viel für ihn, nachdem er heute früh noch Todeskandidat beim Volkssturm war, bis die Mannen sich einsichtsvoll auflösten und sich mangels Waffen und Befehlen gegenseitig heimschickten. Plötzlich rülpst Pauli, fällt vornüber und speit auf den Teppich. Im Nu wird er von der Witwe und dem Mitbuchhalter Grischa ins Bad spediert. Die anderen schütteln den Kopf, äußern Teilnahme... Womit Herr Pauli sich für den Rest des Tages und, wie sich seither herausgestellt hat, auf unabsehbare Zeit ins Bett verkrümelt, in sein Untermieterzimmer nebenan. Eine lahme Ente. Es wird wohl so sein, daß sein Unterbewußtsein die Lähmung will. Seine Seele ist neuralgisch. Trotzdem wirkt er durch sein bloßes maskulines Vorhandensein bremsend. Die Witwe schwört auf ihn und seine kargen Aussprüche zur Weltlage und massiert ihm das Kreuz.

Abenddämmerung, fernes Geheul der Front. Wir zünden die Kerze an, die die Witwe aufgetrieben hat, pappen sie auf eine Untertasse. Dürftiger Lichtkreis über dem runden Tisch. Soldaten kommen und gehen, es wird lebhaft gegen Abend. Es hämmert gegen die Vordertür, es drängt sich hinten in der Küche. Wir sind furchtlos. Solange Petka, Grischa und Jascha bei uns am Tisch sitzen, kann uns nichts passieren.

Plötzlich steht Anatol im Zimmer, erfüllt die Stube mit seiner Mannsgegenwart. Hinter ihm drein trabt ein Soldat mit einem Kochgeschirr voll Schnaps und einem runden, dunklen Brot unterm Arm. Die Männer sind alle in bestem Futterzustand, drall und prall, in sauberen, praktisch-derben Uniformen, mit breiten Bewegungen, sehr selbstbewußt. Sie spucken ins Zimmer, werfen ihre langen Zigarettenmundstücke in die Gegend, wischen die Heringsgräten vom Tisch auf den Teppich hinunter und fläzen sich breit in den Sesseln.

Anatol berichtet, daß die Front nunmehr am Landwehrkanal liegt, und ich muß an den öden, alten Singsang denken: »Es liegt eine Leiche im Landwehrkanal...« Viele Leichen werden nun darin liegen. Anatol behauptet, daß sich in den letzten Tagen 130 deutsche Generäle ergeben hätten. Er kramt aus einer Zellophantasche eine Karte von Berlin heraus, zeigt uns darauf den Frontverlauf. Es ist eine sehr genaue Karte, russisch beschriftet. Eigentümliches Gefühl, als ich nun, Anatols Wunsch willfahrend, ihm zeige, wo sich unser Haus befindet.

Also Samstag, 28. April 1945, Front am Landwehrkanal. Jetzt, wo ich dies aufschreibe, ist Dienstag, 1. Mai. Es orgelt über uns hinweg. Ölig dröhnen die russischen Flugzeugmotoren. Drüben an der Schule stehen in langen Reihen die Stalinorgeln, von den Russen zärtlich »Kartjuscha« genannt und in einem besonderen Soldatenlied besungen. Die Kartjuschas heulen in schrillen Wolfstönen. Sie sehen nach gar nichts aus, gleichen aufrecht stehenden Gittern aus dünnen Rohren. Doch sie heulen, jaulen, kreischen, daß es uns fast die Ohren zerreißt, wenn wir, nicht weit weg davon, nach Wasser anstehen. Dazu speien sie bündelweise Feuerstreifen.

Von den Kartjuschas überheult, stand ich heute morgen in der Wasserschlange. Der Himmel war blutig bewölkt. Das Zentrum raucht und dampft. Die Wassersnot treibt uns aus allen Löchern. Von überall her kommen sie gekrochen, elende, schmutzige Zivilisten, Frauen mit grauen Gesichtern, alte zumeist, denn die jungen versteckt man. Männer mit Stoppel-bärten, weiße Fetzen der Kapitulation um den Oberarm gebunden - so stehen sie da und schauen zu, wie die Soldaten Eimer auf Eimer für ihre Pferde vollpumpen. Denn das Militär hat an der Pumpe jederzeit den Vortritt, ganz selbstverständ-lich. Darob kein Streit, im Gegenteiclass="underline" Als der Pumpenschwengel einem Zivilisten herausbrach, klopfte ein Russe ihn mit einem Nagel gleich wieder fest.

Ringsum in den Schrebergärten Biwak unter Blütenbäumen. Geschütze sind in die Beete gerammt. Vor den Lauben pennen Russen. Andere tränken die Pferde, die in den Lauben Unterstand fanden. Mit Erstaunen sehen wir die vielen Soldatenmädchen in Feldbluse, Rock und Baskenmütze mit Abzeichen, offenbar reguläre Truppenangehörige, meistens blutjung, klein, fest und glattgekämmt. In Bütten waschen sie ihr Zeugs. Hemden und Frauenblusen tanzen aufschnellgespann-ten Leinen. Und darüber weg heulen die Orgeln, und schwarzer Qualm steht wie eine Wand vor dem Himmel. So gestern früh, so heute. Heute traf ich auf dem Heimweg Herrn Golz, parteigläubig bis zuletzt. Nun hat er sich angepaßt. Er tippte einem vorübergehenden Russen auf seine in Zellophan gehüllten bunten Ordensbänder über der Brusttasche, fragte: »Orden?« (Es ist deutsch und russisch dasselbe Wort, wie er mich belehrte; von meinen Sprachkennt-nissen ahnt er nichts.) Er gab mir ein kleines Heft, ein deutschrussisches Soldatenwörterbuch, sagte, daß er deren noch mehr bekommen könnte. Ich hab es bereits durchstudiert. Es steht eine Menge sehr nützlicher Vokabeln darin, wie Speck, Mehl, Salz. Andere wichtige Wörter wie »Angst« und »Keller« fehlen. Auch das Wort »tot«, das ich damals auf meiner Reise nicht brauchte, fehlt mir jetzt öfters in der Unterhaltung. Ich ersetze es durch das gut verständliche »kaputt«, das noch für vieles andere paßt. Dafür enthält das Wörterbuch Ausdrücke, für die wir beim besten Willen jetzt keine Verwendung haben, wie »Hände hoch!« und »Stillgestanden!«. Höchstens könnte es sein, daß man uns jetzt so anspricht.

Nun zurück, zum Samstag, dem 28. April, abends. Gegen 20 Uhr zog Petka mit den Seinen ab. Irgend etwas Dienstliches rief die drei Burschen weg. Petka brummte was von Bald-wieder-kommen, aber so, daß der Oberleutnant es nicht hörte. Dabei quetschte er mir wieder die Finger und versuchte, mir in die Augen zu blicken.

Im übrigen merkwürdig geringe Wirkung der Offizierssterne auf die Mannschaften. Ich war enttäuscht. Keiner fühlte sich in seiner Gemütlichkeit durch Anatols Rang gestört. Anatol setzte sich auch ganz friedlich dazu und lachte und quatschte mit den anderen, panschte ihnen die Gläser voll und ließ sein Kochgeschirr kreisen. Mir wird etwas bange für mein Tabu. Die uns vertraute preußisch-militärische Rangordnung gilt hier offenbar nicht. Die Besternten entstammen keiner besonderen sozialen Schicht, stehen herkunftsmäßig und bildungsmäßig in keiner Weise über den Mannschaften. Sie haben keinen besonderen Ehrenkodex und schon gar keine andere Haltung gegenüber den Frauen. Die abendländischen Traditionen von Ritterlichkeit und Galanterie haben Rußland gar nicht gestreift.