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Kaum hatten wir unseren Malzkaffee mit Butterschnitten vom Plünderbrot verzehrt, kamen auch schon wieder Anatols Mannen aufgekreuzt, für die wir eine Art von Restaurant sind - bloß, daß die Gäste ihr Futter mitbringen. Ein guter Typ diesmal dabei, der beste, den ich bisher unter ihnen fand: Andrej, Feldwebel, von Beruf Schullehrer. Schmaler Schädel, eisblauer Blick, leise und klug. Erstes politisches Gespräch. Das ist nicht so schwierig, wie man denken sollte, da all die politischen und wirtschaftlichen Vokabeln Fremdwörter sind, unseren ent-prechenden Wörtern ganz ähnlich. Andrej ist orthodoxer Marxist. Er gibt nicht Hitler persönlich die Schuld am Kriege, sondern dem Kapitalismus, der die Hitlers hervorruft und Kriegsstoff häuft. Er ist der Meinung, daß die deutsche und russische Wirtschaft einander ergänzen, daß ein Deutschland, nach sozialistischen Grundsätzen aufgebaut, Rußlands natür-icher Partner sei. Mir tat dies Gespräch, ganz abgesehen von seinem Gegenstand, den ich nicht so beherrschte wie Andrej, sehr gut - einfach weil einer von ihnen mich als gleichwertige Gesprächspartnerin behandelte, mich nicht anrührte dabei, nicht mal mit den Augen, nicht das Weibstück in mir sah wie bisher alle anderen.

In unseren Zimmern war den ganzen Vormittag über Kommen und Gehen. Andrej saß auf dem Sofa und schrieb seinen Rapport. Solange er da ist, fühlen wir uns sicher. Er brachte eine russische Armeezeitung mit, ich entzifferte die vertrauten Namen der Berliner Stadtteile. Viel ist nicht mehr deutsch von unserer Stadt.

Sonst erfüllt uns stets und ständig das Gefühl des völligen Preisgegebenseins. Sind wir allein, so schreckt uns jeder Laut, jeder Tritt. Die Witwe und ich drängen uns um Herrn Paulis Bett, wie jetzt, da ich dies schreibe. Stundenlang hocken wir in dem finsteren, eiskalten Zimmer. Iwan hat uns tief unten. Zum Teil wörtlich; denn es gibt in unserem Block noch unentdeckte Hausgemeinschaften, Familien, die seit Freitag im Keller leben und nur frühmorgens ihre Wasserholer ausschicken. Unsere Männer, so scheint es mir, müssen sich noch schmutziger fühlen als wir besudelten Frauen. In der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: »Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!« Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes. Immer wieder ekelt es mich in diesen Tagen vor meiner eigenen Haut. Ich mag mich nicht anrühren, kaum noch anschauen. Muß daran denken, was mir die Mutter so oft erzählt hat von dem kleinen Kind, das ich einmal war. Ein Baby so weiß und rosa, wie es stolze Eltern freut. Und als der Vater 1916 Soldat werden mußte, hat er am Bahnhof beim Abschied der Mutter noch eingeschärft, daß sie niemals vergessen möge, mir das schattende Spitzenhäubchen aufzusetzen, bevor sie mich in die Sonne brächte. Lilienweiß sollten Hals und Gesicht bleiben, wie es damals Zeit und Mode von gut gehaltenen Töchtern verlangten. So viel Liebe, so viel Aufwand mit Häub-chen, Badethermometern und Abendgebet für den Unflat, der ich jetzt bin.

Nun zurück, zum Sonntag. Schwer, alles zurückzurufen, es geht mir so wirr durcheinander. Gegen 10 Uhr waren all unsere Stammgäste beisammen: Andrej, Petka, Grischa, Jascha, auch der kleine Wanja, der uns wieder das Geschirr in der Küche abwusch. Sie aßen, tranken und schwatzten. Einmal sagte Wanja zu mir, mit tiefernstem Kindergesicht: »Wir Menschen sind alle böse, alle. Auch ich bin schlecht, habe Böses getan.«

Anatol erschien, schleppte einen Plattenspieler an, ich weiß nicht, woher. Zwei der Seinen folgten ihm mit den Platten. Und was lassen sie laufen, immer wieder, wohl ein dutzendmal, nachdem sie die meisten Platten kurz angespielt und verworfen haben, den Lohengrin und die Neunte, Brahms sowohl wie Smetana? Sie spielen eine Reklameplatte, wie man sie früher bei der Textilfirma C.& A. am Spittelmarkt dazubekam, wenn man ein größeres Stück kaufte:

»Gehen Sie zu C.&A., schöne Sachen gibt es da...« Und so weiter, im Foxtrott-Takt wird die ganze Konfektion durchge-trällert, und die Iwans trällern in bester Laune mit, es sagt ihnen zu.

Schon kreist wieder Schnaps um den Tisch. Anatol kriegt seinen Gierblick, den ich kenne, und drängt schließlich den ganzen Verein unter ziemlich durchsichtigen Vorwänden hinaus. Nicht einmal einen Schlüssel gibt es für diese Tür. Anatol rückt den Ohrensessel heran. Ich muß immer an das denken, was ich in der Frühe mit der Witwe am Herdfeuer besprochen habe, mache mich starr wie ein Stück Holz, konzentriere mich mit geschlossenen Augen auf das Nein.

Den Sessel rückt er wieder ab, als die Witwe mit der Suppenterrine Einlaß begehrt. Während die Witwe und ich am Tisch Platz nehmen und sogar Herr Pauli von nebenan aus seinem Zimmer gehumpelt kommt, tipp-topp rasiert und manikürt, im seidenen Schlafrock... Währenddes liegt Anatol quer über der Bettstatt, seine gestiefelten Beine baumeln vorn herab, seine schwarzen Locken sind wirr. Er schläft und schläft, sacht den Atem blasend.

Anatol schlief wie ein Kind drei Stunden lang, allein mit uns drei Feinden. Auch wenn er schläft, fühlen wir uns sicherer als allein, er ist unsere Mauer. Der Revolver steckt ihm im Hüftgurt, nun sägt er Bretter durch.

Draußen derweil Krieg, das Zentrum raucht, Schüsse peit-schen.

Die Witwe holt eine Flasche des Plünder-Burgunders, den ich in der Schupokaserne erobert habe, und schenkt uns ein, und zwar in Kaffeetassen, für den Fall, daß Russen hereinplatzen. Wir reden ganz leise miteinander, um Anatol nicht zu wecken. Es tut uns wohl, höflich und freundlich miteinander zu sein, wir genießen die stille Stunde, möchten uns gegenseitig Gutes erweisen. Die Seele erholt sich.

Gegen 16 Uhr erwachte Anatol und stürzte Hals über Kopf von dannen, irgendwelchen dienstlichen Obliegenheiten zu. Wenig später draußen an der Vordertür Gebummer. Zittern, mein Herz aus dem Takt. Gottlob bloß Andrej, der Schullehrer mit dem eisblauen Blick. Wir strahlen ihn an, die Witwe fällt ihm erleichtert um den Hals. Er lächelt zurück.

Gutes Gespräch mit ihm, diesmal nicht über Politik, sondern über Menschlichkeit. Andrej doziert, daß er »solche Sachen« ablehne, wobei er verlegen an mir vorbeischaut; daß er in der Frau den Kameraden sehe, nicht den Körper. Er ist ein Fana-tiker, seine Augen sind weit weg, während er so spricht. Er ist der Unfehlbarkeit seines Dogmas gewiß. Ich muß jetzt manches Mal darüber nachdenken, ob es ein Glück oder Unglück für mich ist, etwas Russisch zu können. Auf der einen Seite gibt es mir eine Sicherheit, die den anderen fehlt. Was ihnen grobe Tierlaute, unmenschliche Schreie sind, ist mir doch Menschensprache - die reichgegliederte, melodische Sprache eines Puschkin und Tolstoi. Zwar hab ich Angst, Angst, Angst (seit Anatol läßt sie ein wenig nach); aber ich spreche doch mit ihnen von Mensch zu Mensch, unterscheide die Übelsten von den Erträglichen, gliedere den Schwärm, mache mir ein Bild von ihnen. Zum ersten Male fühle ich auch meine Zeugenschaft. Es werden nur wenige in dieser Stadt sein, die mit ihnen reden können; die ihre Birken und Dörfer und die Bauern in Bastsandalen gesehen haben und die hastigen Neubauten, auf die sie so stolz sind - und die nun wie ich Dreck sind unter ihren Soldatenstiefeln. Dafür haben es die anderen, die kein Wort ihrer Sprache verstehen, leichter. Sie bleiben diesen Männern fremder, können tiefere Gräben legen und sich einreden, das da seien gar keine Menschen, bloß Wilde, bloß Vieh. Das kann ich nicht. Ich weiß, daß sie Menschen sind wie wir; freilich, so scheint es mir, auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe, als Volk jünger, noch näher ihren Ursprüngen als wir. So ähnlich haben sich wohl die Teutonen aufgeführt, als sie in Rom eindrangen und sich wohlduftende, künstlich gelockte, mani- und pedikürte besiegte Römerinnen griffen. Wobei das Besiegtsein unbedingt der Paprika auf dem Fleisch ist.