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Es war etwa 18 Uhr, als es plötzlich Geschrei gab im Treppenhaus. Heftiger Dactylus gegen unsere Tür: »Die Keller sind geplündert worden!« Andrej, auf unserem Sofa sitzend, nickt dazu. Er wußte es schon seit Stunden, so sagt er, und er rät uns, gleich nach unseren Sachen zu sehen.

Unten das Chaos: zerschlagene Bretterwände, abgerissene Schlösser, die Koffer aufgeschlitzt und zertreten. Wir stolpern über fremden Kram, trampeln auf Wäsche herum, die noch sauber in den Plättbrüchen liegt. Mit einem Kerzenstumpf leuchten wir in unseren Winkel, greifen dies und das, Handtücher, eine Speckseite an der Strippe. Die Witwe jammert, ihr großer Koffer sei verschwunden, in den sie ihre besten Kleidungsstücke gelegt habe. Sie kippt irgendeinen fremden, aufgerissenen Koffer im Gang aus und macht sich daran, die paar restlichen eigenen Habseligkeiten hineinzu-füllen. Mit den Händen schaufelt sie verschüttetes Mehl vom Boden, stäubt es lose in den Koffer hinein, wie von Sinnen. Links und rechts wühlen bei Kerzengeflacker die Nachbarn. Man hört schrille Ausrufe und Gejammer. Bettfedern wirbeln durch die Luft, es riecht nach vergossenem Wein und Kot.

Aufwärts. Wir schleppen unseren Kram. Andrej ist die Plünderung sichtbar peinlich. Er tröstet uns, sagt, es sei vermutlich alles nur verschmissen und durcheinandergeworfen, aber nicht verschwunden; denn die Einbrechenden hätten bestimmt bloß Alkohol gesucht. Wanja, das Kind, inzwischen auch wieder eingetroffen, verspricht der Witwe mit ernstem Blick in seinen schwarzen Augen, halb deutsch, halb russisch, daß er uns morgen früh bei Tagesschein hinuntergeleiten und uns zur Seite bleiben werde, bis alles gefunden sei, was uns gehöre.

Die Witwe weint, sie erinnert sich, immer wieder aufschluchzend, an einzelne Sachen aus ihrem Koffer; an das gute Kostüm, das Strickkleid, die festen Schuhe. Auch ich bin tief niedergeschlagen. Rechtlos sind wir, Beute, Dreck. Unsere Wut entlädt sich auf Adolf. Bange Fragen: Wo steht die Front? Wann wird Friede?

Während wir an Herrn Paulis Bett, in das er sich nach dem Mittagessen wieder zurückgezogen hatte, miteinander flüstern, hält Andrej nebenan mit den Seinen um den Mahagonitisch herum Kriegsrat. Plötzlich fliegen alle Fensterflügel auf, Pappstücke sausen durchs Zimmer, ein Knall, mich wirbelt es an die gegenüberliegende Wand. Ein Knirschen, eine Kalkwolke im Zimmer, draußen ein Mauersturz... Wie wir eine halbe Stunde später von Nachbarn erfuhren, war eine deutsche Granate aufs Nebenhaus gefallen, hatte etliche Russen verwundet und ein Pferd getötet. Am nächsten Morgen fanden wir es im Innenhof: das Fleisch sauber abgetrennt, auf blutbeschmiertem Bettlaken liegend, daneben auf rotfeuchter Erde das fettige Geschling der Eingeweide.

Wie der Abend verlief, ist mir im Augenblick entfallen. Vermutlich Schnaps, Brot, Hering, Büchsenfleisch, Beischlaf, Anatol. Nun hab ich es doch wieder: eine ganze Runde von Russen, von uns bekannten und von neuen, um unseren Tisch herum. Immer wieder zogen sie ihre Uhren, verglichen ihre Zeit, die Moskauer Zeit, die sie mitgebracht haben und die der unsrigen um eine Stunde voraus ist. Einer hatte eine dicke, ehrsame Bauernzwiebel dabei, Marke Ostpreußen, mit ölgelbem, hochgewölbtem Zifferblatt. Warum sie bloß so hinter Uhren her sind? Es ist nicht deren Geldwert; denn nach Ringen, Ohrringen, Armbändern äugen sie längst nicht so, übersehen dergleichen, wenn sie wieder eine Uhr ergattern können. Wahrscheinlich liegt es daran, daß drüben in ihrem Land noch längst nicht jeder eine Uhr bekommen kann. Er muß schon was sein, was vorstellen, bevor er solch eine heißbegehrte Armbanduhr erwischt, das heißt, sie vom Staate zugeteilt bekommt. Und nun wachsen die Uhren auf einmal wie Radieschen in ungeahnter Fülle für jeden, der sie pflücken will. Mit jeder neuen Uhr wird der Besitzer einen Machtzuwachs verspüren. Mit jeder Uhr, die er drüben verschenken und vergeben kann, wächst sein persönliches Gewicht. So wird es sein. Denn sie wissen die Uhren nicht nach ihrem Geldwert zu unterscheiden. Sie bevorzugen Stücke mit Kinkerlitzchen, zum Beispiel mit Stoppuhr, oder mit Drehzifferblatt unter einer Metallhülse. Auch ein buntes Bildchen auf dem Zifferblatt ist für sie Lockspeise.

Ich sah all die Hände der Männer auf unserem Tisch liegen und verspürte jäh Ekel. Sie kamen mir so nackt vor - was klebt alles daran? Schnell Schnaps drauf getrunken, sie rufen »Wyipitj nado«, sooft ich ansetze, und feiern jeden meiner Schlucke wie eine anerkennenswerte Tat. Diesmal außer Schnaps auch Rotwein, wohl Kellerbeute. Eine Kerze, auf eine Untertasse gepappt, gab Flackerschein und warf die slawischen Profile an die Wand. Zum ersten Mal eine Runde von echten Diskutierern. Mindes-tens drei Hochbegabte darunter: Einmal Andre, der Schullehrer und Schachspieler mit seinem eisblauen Blick; beherrscht und leise sprechend wie immer. Dann ein Kaukasier, mit Nasenhaken und Funkelblick. (»Ich bin kein Jude, ich bin ein Georgier«, so führte er sich bei mir ein.) Er ist ungemein belesen, zitiert fließend in Vers und Prosa, ist sehr beredt und so flink wie ein Florettfechter. Die dritte Intelligenzbestie ist auch ein Neuer. Ein blutjunger Leutnant, heute abend erst durch einen Splitter verwundet, mit notdürftig verbundenem Schienbein, an einem deutschen Wanderstock humpelnd, der mit allerlei Wanderplaketten aus bekannten Orten im Harz verziert ist. Der Leutnant ist weißblond und blickt düster drein. Seine Redeweise ist hämisch. Einmal sagt er: »Ich als intelligenter Mensch -«, worauf ihm der Kaukasier ins Wort fällt: »Hier sind einige intelligente Menschen - die Njemka zum Beispiel.« (Das bin ich.)

Diskussion über den Kriegsursprung, den sie im Faschismus sehen, in seiner Struktur, die zu Eroberungen drängt. Kopf-schüttelnd geben sie zu verstehen, daß nach ihrer Meinung Deutschland keineswegs einen Krieg nötig gehabt hätte - es sei doch ein reiches, wohlbestelltes, kultiviertes Land, auch jetzt noch, trotz der Zerstörungen. Eine Weile disputierten sie über den kümmerlichen Frühkapitalismus, dessen Erbe die russische Revolution antrat, und über den fortgeschrittenen, reichen, auch in der Fäulnis fortgeschrittenen Spätkapitalismus, den sie bei uns zu sehen glauben. Mit zögernden, plötzlich sehr vorsich-tigen Argumenten betonen sie, daß ihr Land erst am Beginn einer großen Entwicklung stehe, daß es von seiner Zukunft her gesehen, beurteilt, verglichen werden müsse...

Einer weist auf die Möbel ringsum (Stil 1800) und findet darin überlegene Kultur. Schließlich geraten sie auf das Thema »Degeneration« und streiten sich darüber, ob wir Deutschen degeneriert seien oder nicht. Sie genießen das Spiel; flottes Hin und Her der Argumente, Andrej lenkt das Gespräch mit ruhigem Zügelgriff. Zwischendurch bösartige Ausfälle des Blonden, Verwundeten gegen mich persönlich. Spott und Hohn über Deutschlands Eroberungspläne, seine Niederlage. Die anderen gehen nicht auf diesen Ton ein, lenken schnell ab, verweisen ihm seine Rede, zeigen Siegertakt.

In das Palaver hinein platzt Anatol, müde vom Dienst, gähnend. Er hockte sich dazu, langweilte sich aber sehr. Da kann er nicht mit. Er ist vom Land. Er hat mir erzählt, daß er auf seinem Kolchos für die Milch verantwortlich war, also etwa Molkereileiter. Darauf ich: »Ach, wie interessant.« Er: »Na, es geht, weißt du, immer Milch, bloß Milch...« Und er seufzte. Nach einer halben Stunde des Dabeisitzens zog er wieder ab, ließ die Diskutierer weiterreden.

Nebenan schlief Herr Pauli. Wieder hatte die Witwe sich in seiner Nähe ihr provisorisches Nachtlager gerichtet. Sonst ist die Lage klar: Hausrecht für einige Hausfreunde, wenn man das so nennen kann, sowie für die von Anatol eingeführten Leute seiner Truppe. Nachtrecht jedoch allein für den Häuptling Anatol. Ich bin im übrigen jetzt wirklich Tabu, wenigstens für heute. Was morgen wird? Keiner weiß es. Anatol kreuzte gegen 12 Uhr nachts wieder auf; von selbst verzog sich daraufhin die Tafelrunde. Zuletzt humpelte der Weißblonde an seinem Wanderstock hinaus und maß mich zum stummen Abschied mit einem bösen Blick.