Hab darüber nachdenken müssen, wie gut ich es bisher gehabt, daß mir in meinem Leben die Liebe niemals zur Last und immer zur Lust war. Bin nie gezwungen worden, hab mich niemals zwingen müssen. So wie es war, war es gut. Es ist nicht das Allzuviel, was mich jetzt so elend gemacht hat. Es ist der mißbrauchte, wider seinen Willen genommene Körper, der mit Schmerzen antwortet.
Ich muß an eine verheiratete Schulfreundin denken, die mir zu Anfang des Krieges einmal gestand, daß sie sich in einem gewissen Sinne nun, ohne Mann, da der ihre eingezogen war, körperlich wohler fühle als vorher in der Ehe, da ihr der Vollzug dieser Ehe stets schmerzhaft und unerfreulich gewesen, was sie ihrem Manne aber nach Kräften verheimlicht habe. Frigide nennt man sowas wohl. Ihr Körper war nicht bereit. Und frigide blieb ich bisher bei all diesen Beiwohnungen. Es kann, es darf nicht anders sein, ich will tot und gefühllos bleiben, solange ich Beute bin.
Über Mittag konnte ich zufällig zwei Menschenleben retten. Es fing damit an, daß ein Deutscher, ein mir unbekannter älterer Mann, an unsere Vordertür klopfte und nach mir rief, das heißt, »nach der Dame, die Russisch kann«.
Ich, treppab mit ihm, sehr zögernd, zugegeben, denn der Mann brabbelte was von Revolvern und Erschießen. Unten standen die beiden alten Postrats und, Erleichterung, etliche von Anatols Mannen, Unteroffiziere. (Ich unterscheide dank Anatols Elementar-Unterricht die Grade schon ziemlich genau.) Er stand bereits mit dem Gesicht zur Mauer, stumm, mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt, in Pantoffeln. Sie hatte den Kopf gedreht und plapperte über ihre Schulter weg immer die gleichen schnellen Sätze.
Was war los? Folgendes: Das Flüchtlingsmädel, das bei den Postratsleuten in Untermiete wohnte und noch am Samstag morgen zu uns von Schlußmachen und Nichtmehrkönnen gejammert hatte, ist im Treppenhaus mit einem Revolver in der Manteltasche erwischt worden. Sie hat das Schießding wohl noch aus ihrer Heimat mitgebracht, niemand weiß es. Sie riß sich los, raste treppauf und entkam ihren Verfolgern im Gewirr der Dachmansarden. Seither ist sie verschwunden. Nun hat man in den Zimmern der Postrats alles durcheinandergeworfen und fand, oh Schreck, schließlich ein Foto, auf dem das Mädel im Brustbild mit einem SS-Soldaten zu sehen ist. Das Bild haben sie hier unten, sie zeigen es mir, ich muß bestätigen, daß dies die Königsbergerin ist. Der SS-Mann ist wohl ihr Verlobter oder auch ihr Bruder; er hat den gleichen dicken Kopf wie sie.
Und nun wollen die Russen, nachdem sie die beiden Alten als Geiseln verhaftet haben, diese sofort erschießen, wenn sie nicht das Mädel herschaffen, wenn sie nicht sagen, wohin das Mädel geflüchtet ist.
Erst mal kann ich einen Irrtum aufklären. Die Russen haben die beiden Alten für des Mädchens Eltern gehalten. Sie sind noch an richtige Familien gewöhnt, diese Männer; sie kennen unser verwirrtes, vereinzeltes, durcheinandergewürfeltes Hau-sen nicht. Als sie hören, daß es sich um Fremde handelt, bei denen das Mädel bloß wohnte, ändern sie bereits ihren Ton. Die alte Frau, die während unseres Hin- und Herredens die Russen und mich genau in ihrem Angstblick hielt, bricht nun in eine Redepause ein und glaubt sich zu nützen, indem sie die Verschwundene beschimpft, sie schlecht macht: Man habe ihnen die Person einfach in die Wohnung gesetzt, sie habe ihnen nichts als Ärger und Unordnung gebracht, man habe sie dicksatt gehabt, wundere sich über gar nichts - und wenn sie wüßte, wo das Mädel sei, so würde sie's schon sagen, sie habe keinen Grund, das zu verschweigen. Und so weiter.
Bestimmt würde die Frau das Mädel preisgeben, wenn sie könnte. Immerfort wiederholt sie ihr angstbebendes Geschwa-fel, während der Mann stumpf und dumpf dasteht, das Gesicht zur Mauer gekehrt.
Ich rede und rede, erkläre den Russen, daß das Mädel mit seinem Revolver bestimmt keine Tötungsabsichten gegen die Russen hatte, daß es, wie ich selbst gehört hätte, Selbstmord plante und sich vermutlich längst irgendwo erschossen habe - vielleicht werde man bald ihre Leiche finden. (Das Wort für Selbstmord, ssamo-ubiestwo, steht auch nicht im deutsch-russischen Soldatenwörterbuch. Ich habe es aus Andrej herausgefragt.)
Allmählich lockerte sich die Stimmung. Ich konnte es wagen, die Postratsleute in komischer Form als vollendete Trottel hinzustellen, die von nichts eine Ahnung hätten. Schließlich hatte sich auch der Mann herumgedreht. Aus seinem offen-hängenden Mund seiberten Speichelfäden wie bei einem Säugling. Die Frau schwieg, ihre hellen, irren Altfrauenaugen flitzten zwischen mir und den Russen hin und her. Am Ende durften beide lebend abziehen.
Mir wurde noch aufgetragen, allen Zivilisten im Hause mitzuteilen, daß beim nächsten Waffenfund das ganze Gebäude vom Keller bis zum Söller heruntergebrannt würde, nach Kriegsrecht. Das Mädel aber, so schworen die Männer, würden sie finden und liquidieren.
Ganz verwandelt sind meine fröhlichen Wodkatrinker. Gar nicht wiederzuerkennen! Sie geben auch mir gegenüber kein Zeichen davon, daß sie mir über dem runden Tisch viele Male zugetrunken haben. Es ist kein Verlaß auf ihr Gejodel. Offenbar ist Dienst Dienst für sie und Schnaps Schnaps - zumindest für diese drei Burschen. Ich muß es mir merken, muß vorsichtig sein mit ihnen.
Ich war hinterher ganz zufrieden mit mir, aber auch ängstlich. Auf diese Art werde ich bekannt wie ein bunter Hund, und daran liegt mir nichts. Ich gebe es zu, daß ich Furcht habe und im Verborgenen bleiben möchte. Als ich ging, kam der Mann, der mich geholt hatte, hinterdrein, bat mich, einen Ausdruck zu übersetzen, den er oft von Russen gehört: »Gitler Durak.« Ich übersetze: »Hitler ist ein Schafskopf.« Das sagen sie uns immerzu triumphierend, als sei es ihre Entdeckung.
Mittwoch, 2. Mai 1945, mit Dienstagrest
Ich hockte den halben Dienstag nachmittag an Herrn Paulis Bett und schrieb nach, was geschehen. Vorsichtshalber habe ich mir die letzten Seiten dieser Schreibkladde als deutsch-russisches Wörterverzeichnis eingerichtet, das ich neugierig dazwischenplatzenden Russen jederzeit vorweisen kann. Tat es einmal bisher und erntete ein schulterklopfendes Lob.
Gegen Abend gab es eine Störung. Jemand trat und schlug gegen die Vordertür. Ich öffnete bei versperrter Kette, sah etwas Weißes und erkannte den Bäcker von Dienstag früh in seiner Kittelmontur. Er wollte herein. Ich wollte nicht, tat so, als sei Anatol drinnen. Da forderte er von mir ein anderes Mädel, irgendeins, eine Adresse, einen Hinweis, wo eines sei - er wolle dem Mädel Mehl dafür geben, viel Mehl, und auch mir Mehl für die Vermittlung. Ich weiß kein Mädel für ihn, will keins wissen. Da wurde er lästig, zwängte seinen Fuß in den Türspalt, riß an der Verschlußkette. Ich drückte ihn mühsam hinaus, knallte zu.
Ja, die Mädel sind allmählich verknappte Ware. Man kennt jetzt die Zeiten und Stunden, in denen die Männer auf die Weibsjagd gehen, sperrt die Mädel ein, steckt sie auf die Hängeböden, packt sie in den gut gesicherten Wohnungen zusammen. An der Pumpe wurde eine Flüsterparole weiterge-geben: Im Luftschutzbunker hat eine Ärztin einen Raum als Seuchenlazarett eingerichtet, mit großen Schildern in Deutsch und Russisch, daß Typhuskranke in dem Raum untergebracht seien. Es sind aber lauter blutjunge Mädels aus den Häusern ringsum, denen die Ärztin mit ihrem Typhustrick die Jungfern-schaft rettet.
Wenig später gab es wiederum Lärm. Diesmal hatten sich zwei, uns bis dato unbekannt, in die leerstehende Neben-wohnung Einlaß verschafft. In etwa zwei Metern Höhe ist die Trennwand zwischen den Wohnungen von einem der letzten Luftangriffe her eingerissen und klafft vier Fäuste breit. An diesen Spalt oben in der Mauer hatten die Kerle drüben sich offenbar einen Tisch herangerückt. Nun riefen sie durch den Riß hindurch, wir sollten ihnen sofort die Tür öffnen, sonst würden sie auf uns schießen. (Daß unsere Hintertür ohnehin offensteht, wußten sie wohl nicht.) Einer der Kerle leuchtete mit seiner Taschenlampe in unseren Flur herein, während der zweite sein Automatengewehr in Anschlag brachte. Aber wir wissen schon, daß sie so rasch nicht schießen, vor allem dann nicht, wenn sie noch so nüchtern und zungenfix sind wie die beiden. Ich ging auf den albernen Ton ein, versuchte auf russisch komisch zu sein. Zwei bartlose Knäblein übrigens, ich redete ihnen gut zu und predigte sogar über den Ukas des großen Stalin. Schließlich entfernten sie sich von ihrem Schieß-stand, polterten noch eine Weile mit den Stiefeln gegen unsere Vordertür und verzogen sich am Ende. Wir atmeten auf. Immerhin ein beruhigendes Gefühl, daß ich notfalls eine Treppe höher laufen und jemand von Anatols Mannen zu Hilfe rufen kann. Wir sind Anatols privater Hirschpark. Das wissen jetzt die meisten.