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Der Witwe wurde es dennoch so langsam unheimlich zumute, besonders als auch gegen Abend keiner von unseren Stamm-gästen auftauchte. Sie benutzte einen Augenblick der Ruhe im Treppenhaus und huschte aufwärts, Kontakt mit Hausbe-wohnern zu suchen. Kehrte nach zehn Minuten zurück: »Bitte komm mit zu der Frau Wendt, dort sind so nette Russen, es ist richtig gemütlich.«

Frau Wendt, das ist die alleinstehende Fünfzigerin mit dem eitrigen Ekzem auf der Wange, dieselbe, die seinerzeit ihren Trauring am Schlüpfergummi festgezurrt hatte. Es stellt sich heraus, daß sie mit der übriggebliebenen Haushälterin unseres westwärts geflüchteten Hausbesitzers zusammengezogen ist - eine der Angst- und Notgemeinschaften, wie sie sich überall ringsum bilden. In der kleinen Küche war Mief und Tabakqualm. Im Kerzenschein unterschied ich die beiden Frauen und drei Russen. Vor ihnen auf dem Tisch sah man eine ganze Menge Konserven, die meisten ohne Aufschriften, wohl deutsche Trup-penverpflegung, Russenbeute. Die Witwe bekam gleich von einem der Russen eine Büchse in die Hand gedrückt.

Auf Wunsch der Frauen sprach ich kein Wort Russisch, markierte Lieschen Doof. Von den drei Russen kannte mich keiner. Einer, Serjoscha gerufen, rückte mir auf den Leib, legte mir den Arm um die Hüfte. Worauf ein anderer Russe eingriff und in sanftem Ton sagte: »Bruder, ich bitte dich, laß das sein.« Und Serjoscha rückte ertappt von mir weg. Ich staune. Der gesprochen hat, ist jung und von Gesicht schön. Er hat dunkle, regelmäßige Züge. Seine Augen leuchten. Seine Hände sind weiß und schmal.

Nun sieht er mich ernst an und spricht in ungelenkem Deutsch: »Nicht chaben Angst.«

Die Frau Wendt flüstert uns beiden zu, dieser Russe heiße Stepan, er habe bei einem deutschen Luftangriff auf Kiew die Frau und zwei Kinder verloren - er habe uns jedoch alles verziehen und sei überhaupt wie ein Heiliger.

Nun schiebt der dritte Russe, klein und pockennarbig, mir eine Büchse hin, die er mit seinem Taschenmesser geöffnet hat. Das Messer gibt er mir gleich dazu und bittet mich durch Gesten, zu essen. Es ist Fleisch in der Büchse. Ich spieße mir fette, große Brocken davon in den Mund, ich bin hungrig. Alle drei Russen schauen mir wohlgefällig zu. Die Frau Wendt macht den Küchenschrank auf und zeigt uns ganze Reihen von Konservenbüchsen, alle von den drei Burschen angeschleppt. Es ist wirklich gemütlich hier. Dabei sind die beiden Frauen eher abstoßend; Frau Wendt mit dem Ekzem; und die Ex-Haushälterin ist ein Mausgeschöpf, bebrillt und verkümmert. Da kann einem das Schänden vergehen. Der Himmel mag wissen, warum diese Männer gerade hier Fuß gefaßt haben und so fleißig anschleppen.

Ich könnte noch lange sitzen bleiben. Stepan strahlt ordentlich Schutz aus. Ich staune ihn an wie ein Bild, nenne ihn bei mir, in der Erinnerung an die Brüder Karamasow, Aljoscha. Aber die Witwe wird unruhig, sie sorgt sich um den allein in seinem Bett zurückgebliebenen Herrn Pauli. Obwohl doch unsere Männer, und gar kranke, bettlägrige, bestimmt nichts von den Russen zu befürchten haben. Unvorstellbar, daß einer von diesen Bur-schen hüftschwenkend daherkäme und einem Mannsbild zusäuselte: »Mann, komm.« Die sind hoffnungslos normal.

Serjoscha bringt uns mit der Kerze an die Tür, ist lammfromm und zahm unter Stepans Blick, riskiert erst im Türrahmen ein sachtes Kneifen in meinen Oberarm. Wir traben abwärts, jeder mit einer Fleischbüchse in Händen. Aus unserer Wohnung schallt muntere Musik. Drinnen ist Hochbetrieb. Im Wohnzimmer hockt, durch die allzeit offene Hintertür eingedrungen, fast vollzählig der Haufen von Anatol. Sie haben irgendwo ein Schifferklavier aufgetrieben und spielen abwechselnd darauf. Jeder versucht's, keiner kann's richtig, und das Ergebnis ist danach. Aber sie lachen sehr dabei. Sie wollen feiern, heute ist erster Mai. Wo Anatol steckt, wissen sie nicht, sie sagen, er sei dienstlich unterwegs, er habe vieles zu beschicken.

Wir verziehen uns nach nebenan, an Herrn Paulis Bett - und finden dort Russenbesuch. Der düstere Leutnant an seinem plattengeschmückten Wanderstock und noch einer, den er anscheinend mitgebracht hat und den er uns auf ebenso gewandte wie beiläufige Art vorstellt: -tsch -tsch -tsch Soundso, Major. (Sie haben eine spezielle Art, ihre Vaters- und Familiennamen zu vernuscheln und zu vertuscheln, sind alle bemüht, ihre Identität zu verkleistern, geben nur ihre Allerwelts-vornamen preis sowie die Ränge, die ihnen der Kenner ja ohnehin ansieht.)

Ich starre den Düsterblonden voll Abneigung an und wünsche ihn sonstwohin. Doch er gibt kein Zeichen des Erkennens, tut fremd und formell und ist tadellos höflich. Noch höflicher ist der von ihm mitgebrachte Major. Er springt bei unserem Eintritt auf, verbeugt sich wie in der Tanzstunde, wiederholt vor jedem von uns seinen Gruß. Ein großer, schlanker Typ, brünett, in sauberer Uniform, er schleppt das eine Bein eine Kleinigkeit nach. Nachträglich erst entdecke ich noch einen dritten Neuling im Zimmer. Er saß reglos auf einem Stuhl am Fenster, trat erst auf Anruf des Majors blinzelnd zu uns in das Kerzenlicht. Ein Asiat mit dicken Kinnbacken und verquollenen Schlitzäuglein, uns vorgeführt als des Majors Bursche. Gleich nachher verzog er sich wieder in seinen Fensterwinkel, stellte den Kragen seines grauwollenen Mantels hoch gegen den von draußen hereinpustenden Wind.

Zu viert sitzen wir nun um Paulis Bett, die Witwe, ich, der Major und der Düsterblonde. Das Reden besorgt der Major. Ich muß auf seine Bitte zu Herrn Pauli und der Witwe hin, die er für ein Ehepaar hält, seine zahlreichen, gewählten Höflichkeits-floskeln verdeutschen. Er und ich mustern einander verstohlen. Tastend wechseln wir die Worte. Ich werde nicht klug aus ihm, behalte ihn im Auge. Nun offeriert der Major Zigarren, die er lose in der Jackentasche trägt. Dankend nimmt Pauli zwei Stück davon entgegen, raucht die eine an, wobei er von dem Major Feuer nimmt. Beide qualmen bedächtig. Der Major hält Pauli hin und wieder aufs höflichste den Aschenbecher hin. Plötzlich springt er auf, bittet, ihm doch sagen zu wollen, ob er vielleicht störe - dann werde er gleich diesen Raum verlassen, aber sofort! Und er tut so, als sei er bereits auf dem Sprung dazu. Nein, nein, wir wehren ab, er stört uns nicht. Worauf er wieder Platz nimmt, schweigend weiterqualmt. Der reine Knigge. Wieder ein völlig neues Muster aus der offenbar unerschöpflichen Mustersammlung, die uns die UdSSR da geschickt hat. Übrigens ist er nervös. Seine Hand, welche die Zigarre hält, zittert beträchtlich. Oder hat er Fieber? Denn er hat inzwischen berichtet, daß er am Knie verwundet sei und mit dem anderen, dem düsterblonden Leutnant, zusammen im Krankenhaus verbunden werde. (Im Krankenhaus sitzen sie also auch drin. Möchte wissen, wie man sie dort verstaut hat und wohin man die Unsrigen gepackt hat, die doch vorige Woche noch jedes Bett und jeden Raum füllten.)

Der Gesangverein nebenan hat sich inzwischen mitsamt dem Schifferklavier aus unserer Wohnung verzogen. Es wird still um uns. Ich schiele auf die Armbanduhr des Düsterblonden. Die Zeiger gehen schon auf elf zu. Wir sehen einander an, die Witwe, Herr Pauli und ich, wissen nicht, was wir aus diesen Gästen herauslesen sollen.

Nun gibt der Major dem Asiaten im Fensterwinkel einen Befehl. Und der zerrt aus einer seiner Manteltaschen etwas, das kaum herausgeht: eine veritable Flasche deutschen Markensekt! Er stellt sie in den Lichtkreis der Kerze auf das Tischchen an Paulis Bett. Schon läuft die Witwe nach Trinkgläsern. Wir stoßen an, trinken aus. Dabei geht zwischen dem Major und dem düsterblonden Leutnant ein halblautes Palaver hin und her, das ich offenbar nicht hören soll. Bis der Major sich unvermittelt an mich wendet und mich fragt, so streng wie in der Schule: »Was wissen Sie vom Faschismus?«