»Nein, nein.« Nein, keineswegs, du magst schon recht sein, so wie du bist. Nur kann ich mich nicht so schnell in die Lage finden. Ich habe das ekelhafte Gefühl des Von-Hand-zu-Hand-Gehens, fühle mich erniedrigt und beleidigt, zum Sexualobjekt degradiert. Dann wieder die Überlegung: »Und wenn es wahr wäre, daß Anatol entschwunden ist? Wenn mir dieses so mühsam errichtete Tabu, diese Mauer wieder genommen wäre? Wäre es nicht gut, ein neues, vielleicht länger währendes Tabu aufzurichten, eine neue Mauer um mich zu bauen?«
Nun hat der Major sein Koppel abgenommen, seine Jacke abgelegt, immer im Zeitlupentempo und mit Seitenblicken auf mich. Ich sitze, warte, fühle den Schweiß in meinen Hand-flächen, will und will ihm nicht weiterhelfen. Bis er plötzlich sagt: »Bitte, geben Sie mir Ihre Hand.«
Ich starre ihn an. Will er mich frei nach Knigge mit einem Handkuß beglücken? Oder ist er ein Handliniendeuter? Schon nimmt er meine Hand, drückt sie fest mit seinen beiden Händen und sagt, wobei ihm der Mund zittert und die Augen jämmerlich blicken: »Verzeihen Sie mir. Ich habe so lange keine Frau mehr gehabt.«
Das durfte nicht kommen. Schon liege ich mit meinem Gesicht auf seinen Knien und schluchze und heule und heule mir einmal den ganzen Jammer von der Seele. Ich spüre, wie er mein Haar streichelt. Dann Geräusch an der Tür, wir blicken beide hoch. Im Türspalt steht, ihre Kerze in der Hand, die Witwe und fragt angstvoll, was mir denn sei. Der Major und ich winken beide ab, sie sieht wohl auch, daß mir nichts Böses getan wird, ich höre die Tür wieder zuklappen. Hab ihm dann wenig später und im Dunkeln gesagt, wie elend und wund ich bin und daß er sanft sein soll. Er war sanft und wortlos zärtlich, gab bald Ruhe, ließ mich schlafen.
Das war mein Dienstag, erster Mai.
Weiter, der Mittwoch. Zum ersten Mal in diesen Männer-nächten schlief ich mich aus bis in den Tag hinein und fand dann den Major noch an meiner Seite. Offenbar hat er keinen Dienst, kann sich's einteilen. Wir schwätzten mancherlei, ganz freundschaftlich und vernünftig. Unvermittelt gestand er mir, daß er keineswegs ein Kommunist sei - er sei Berufsoffizier, auf der Militärakademie ausgebildet, und hasse die jugendlichen Spitzel aus dem Komsomol. Woraus ich entnahm, daß auch die höheren Offiziere Grund haben, sich vor parteilicher Über-wachung zu fürchten. Ich staune, wie offen er zu mir spricht. Allerdings sind wir ohne Zeugen. Ebenso unvermittelt wollte er wissen, ob ich auch bestimmt gesund sei - »Sie verstehen - ich meine, du verstehst mich.« (Er wirft Du und Sie noch durcheinander.) Worauf ich ihm wahrheitsgemäß erklärte, daß ich niemals mit dergleichen Leiden zu tun gehabt hätte, aber freilich nicht wüßte, ob mir nicht von seiten jener Russen, die mir Gewalt angetan, etwas Derartiges angehängt worden sei. Er schüttelt den Kopf, seufzt: »Ach, diese Hooligane!« (Hooligan, sprich »Chuligan«, russisches, vielgebrauchtes Fremdwort zur Bezeichnung von Lumpen, Strolchen, Lümmeln.)
Er stand auf, zog sich an, rief im Gang nach dem Asiaten. Der kam sogleich angewackelt, noch auf Socken, seine Schuhe in der Hand. Der Leutnant blieb unsichtbar, hatte sich wohl schon empfohlen. Nebenan hörte ich die Witwe rumoren.
Draußen fröstelte der Maimorgen. Ketten klirren, Pferde wiehern, längst hat der Hahn gekräht. Doch keine Kartjuscha, kein Schuß, nichts. Mit schöner Stimme singt der Major, im Zimmer umherhumpelnd und sein Bein bewegend, allerlei Lieder, so das zauberhafte »Bleib, verweile doch, du Schöne mein.« Hockt sich dann auf die Bettkante, spielt auf einer kleinen Mundharmonika, die er aus der Tasche zog, einen Marsch - so feurig, so geschickt, daß man staunen muß. Unterdes hilft der Asiat - er sagt auf meine Frage, daß er aus Usbekistan stammt - seinem Herrn sanft in die weichen Lederstiefel, bemüht, das kranke Bein zu schonen. Dabei himmelt er den musizierenden Major an und seufzt in fremd klingendem Russisch: »Ech, wie ist das so schön!«
Später, als beide gegangen waren, hörte die Witwe im Treppenhaus, daß gegen vier Uhr die Kapitulation von Berlin unterzeichnet worden sei - jemand hatte es mit dem Detektor gehört. »Frieden«, so glaubten wir und freuten uns. Bis wir nachher erfuhren, daß in Nord und Süd der Krieg weitergeht.
Mittwoch, die Stunden schleichen dahin. Immer wieder werde ich beim Schreiben unterbrochen. Doch nun stört sich schon keiner mehr an meinem Gekritzel. Allenfalls sagt mal einer: »So ist's recht. Lernt ihr nur fleißig Russisch.«
Immerzu Russen, Schnaps, Küchenarbeit, Wasserschleppen. Irgendwo soll noch ein Holzbalken liegen, schnell hin, sonst schleppt ihn ein anderer ab. Zwei von Anatols Männern kamen aus der verlassenen Wohnung gelaufen, die sie die letzten Tage innehatten - Matratzen und Deckbetten überm Arm. Wohin sie wohl ziehen mögen? Von Anatol selbst keine Spur. Offenbar hat der Leutnant nicht gelogen. Übrigens hat mir der Major beim Abschied versprochen, daß er gut für mich sorgen, mir zu essen bringen werde. Das soll mir recht sein. Es ärgert mich schon seit Tagen, daß ich von dem Butterklumpen, den Herr Pauli vom Volkssturm mitgebracht hat, mitzehren muß. Das ist jetzt ein anderes Leben als droben in meiner kahlgefressenen, hungrigen Dachwohnung. Zuerst die letzten deutschen Zuteilungen. Dann mein Geraubtes, die Plünder-beute aus der Schupo-Kaserne, die Kartoffeln aus der Baracke. Auch hatte die Witwe noch kleine Vorräte an Kartoffeln, Hülsenfrüchten, Speck. Und was hat Anatol mitsamt seinem Haufen alles bei uns interlassen an Brot, Heringen, Speckkanten, Büchsenfleisch! (Nur vom Alkohol blieb nie was übrig.) Dazu die beiden Fleischbüchsen aus den weißen Händen von Stepan-Aljoscha! Davon läßt es sich leben. Eigentlich habe ich seit Jahren nicht so fett gegessen, war seit Monaten nicht mehr so satt nach den Mahlzeiten. Es kann ja nicht so bleiben. Einstweilen jedoch stopfe ich mich voll, fülle mich mit Kräften auf.
Draußen Kälte und verhangener Himmel. An der Pumpe stand ich heut lange im dünnen Regen. Ringsum in den zertrampelten Gärten brennen Feuerchen, ertönt Männer-gesang zum Schifferklavier. Vor mir steht eine Frau in Männerschuhen, einen Schal um den Kopf und um das halbe Gesicht gewickelt, mit dickverweinten Augen. Ringsum Stille, zum ersten Mal, seit ich nach Wasser anstehe. Die Kartjuschas schweigen. Noch schwelt der Himmel gelb. Die Nacht zum Mittwoch war voll Brand. Doch kein Schuß mehr in Berlin, Ruhe. Wir stehen so da, der Regen pladdert, wir sprechen nur wenig und leise. Die Pumpe knarrt, der Schwengel quietscht, Russen füllen einen Kanister nach dem anderen. Wir warten. Die Jammergestalt vor mir berichtet monoton, nein, sie sei bisher nicht vergewaltigt worden, sie habe sich mit ein paar anderen Hausbewohnern im Keller einsperren können. Nun sei jedoch ihr Mann zurückgekehrt, von der Truppe, man verstehe wohl schon... Und nun müsse sie sich um ihn kümmern, ihn verstecken, für ihn Speise und Trank heranschaffen, da könne sie auf sich selber keine Rücksicht mehr nehmen. Derweil zetert hinter mir eine ungekämmte Type: »Meine gute Couch, königsblauer Samt, ich hatte zwei passende Sessel dazu, die haben sie mir kaputtgehauen und verheizt!« Und schließlich weiß ein Mann, ein dürrer Knochen mit einem Gesicht so klein wie eine Faust, eine Geschichte zu berichten: In seinem Haus halte eine Familie die junge Tochter flach unter der Chaise-longue versteckt - die Decke sei bis zum Boden herabgezogen, und es hätten schon Russen daraufgesessen, ohne zu ahnen, daß dies Mädel darunterlag... Ob's wahr ist oder erfunden, ich weiß es nicht. Möglich wäre es schon. Wir leben in Kitschromanen und Kolportage.
Ich kann mich nicht verstecken, obwohl ich ein verborgenes Schlupfloch im Dachgeschoß weiß. Hab ja keinen Menschen, der mir dorthinauf Wasser und Nahrung brächte. Als ich neun Jahre alt war und auf Ferienbesuch im Haus der Großeltern, hab ich mich eines Sonntagnachmittags mit meiner Kusine Klara auf dem Dachboden versteckt. Wir krochen in einen Winkel unter den sonnenwarmen Strohpuppen des Dachge-bälks und tuschelten über das Kinderkriegen. Klara, jünger als ich, doch wissender, flüsterte von großen Messern, mit denen die Frauen aufgeschnitten würden, damit die Kinder ans Licht kämen. Ich spüre noch, wie es mir vor Grausen den Hals zuzog. Bis unten an der Treppe Großmutters behäbige Stimme uns zum Vespern rief. Erlöst stolperte ich treppab und atmete auf, als ich die Großmutter in ihrer Satinschürze sah, unaufgeschnitten, breit und rund, die Nickelbrille vom auf der Nase. Es roch nach Kaffee und Apfelkuchen, und bestimmt war der Kuchen mit Puderzucker bestreut, obwohl ein Pfund davon damals mehrere Millionen Papiermark kostete. Überm Kauen vergaß ich Klaras Messer und meine Angst. Aber ich meine heute, daß die Kinder recht haben in ihrer Angst vor dem Geschlechtlichen. Es sind viele scharfe Messer darin.