Die Russen um die Pumpe herum musterten uns Wasser-holerinnen immer nur flüchtig. Die haben schon kapiert, daß aus den Häusern in erster Linie die Krummen und Alten zur Pumpe geschickt werden. Ich runzle dort auch meine Stirn, ziehe die Mundwinkel abwärts, kneife die Augen zusammen, um recht alt und mies zu erscheinen.
Anfangs, als ich noch nicht so bekannt war wie ein bunter Hund, haben unsere russischen Gäste mich oft nach meinem Alter gefragt. Sagte ich dann, ich sei bereits vor einiger Zeit dreißig geworden, so gab es ein Gegrinse und die Antwort: »Hehe, die macht sich älter, die Schlaue.« Meinem Ausweis, den ich nun zückte, mußten sie freilich glauben. Die kennen sich mit uns nicht aus, sie sind ihre viel gebärenden, früh verbrauchten Russinnen gewöhnt, lesen uns die Jahre nicht vom Körper ab - so elend und kümmerlich die meisten von uns auch jetzt im Vergleich zu Friedenszeiten wirken mögen.
Ein rotbackiger Russe spazierte, auf einem Akkordeon spielend, an unserer Reihe entlang. Er rief uns zu: »Gitler kaputt, Goebbels kaputt. Stalin gutt.« Er lacht, kräht einen Mutterfluch, schlägt einem Kameraden auf die Schulter und ruft auf russisch, obwohl man das in der Pumpenschlange gar nicht versteht: »Den seht euch an! Das ist ein russischer Soldat. Der ist von Moskau nach Berlin gezogen!« Sie platzen aus allen Knopflöchern vor Siegerstolz. Offenbar staunen sie selber darüber, daß sie es so weit gebracht haben. Wir schlucken alles, stehen und warten.
Ich kam heim mit zwei Eimern voll Wasser. Drinnen in der Wohnung neuer Wirbel. Zwei Soldaten, Fremde, rennen durch unsere Zimmer, suchen nach einer Nähmaschine. Ich führe unsere »Singer« in der Küche vor. Seit Petka, der bürsten-köpfige Romeo, damit Fangball gespielt hat, sieht sie ziemlich verbogen aus. Wozu brauchen die beiden denn eine Nähma-schine?
Es stellt sich heraus, daß sie eine Sendung nach Rußland in leinene Hüllen eingenäht haben wollen. Was natürlich von Hand zu bewerkstelligen wäre. Mit viel Beredsamkeit, deren Hauptfigur die Wiederholung war, überzeugte ich die Knaben davon, daß für ihre Wünsche die Technik noch nicht weit genug fortgeschritten, daß hier Großmutters schlichte Handarbeit am Platze sei.
Schließlich nicken sie mit ihren runden Köpfen, willigen ein. Als Lohn winkt ein ganzes Brot. Die Witwe überlegt und beschließt, den fürstlichen Auftrag der Buchhändlerin zuzu-schanzen, die nähgewandt und brotbedürftig ist. Sie eilt, die Frau aus ihrer dreifach gesicherten Wohnung herauszuklopfen.
Nach einer Weile kommt sie wirklich herein, mißtrauisch, zögernd, doch sogleich gierig nach dem Brote schielend. Seit Tagen, so sagt sie, hat sie keinen Bissen Brot mehr gegessen. Sie lebt mit ihrem Mann von Graupen und Bohnen. Nun stellt sie sich ans Küchenfenster und stichelt sorgsam die weißen Leinenlappen um das Konvolut. Der Inhalt bleibt uns verborgen. Es faßt sich weich an, ich vermute, daß Kleidungsstücke darin sind.
Ich versuche mir vorzustellen, wie den Russen angesichts all des schutzlos und herrenlos herumliegenden Gutes zumute sein muß. In jedem Haus gibt es verlassene Wohnungen, die ihnen völlig preisgegeben sind. Jeder Keller mit allem darin verstauten Kram steht ihnen offen. Nichts in dieser Stadt, was ihnen, wenn sie wollen, nicht gehörte. Es ist einfach zuviel. Sie übersehen die Fülle nicht mehr, greifen lässig nach blinkenden Dingen, verlieren oder verschenken sie wieder, schleppen manches Stück ab, das sie nachher als zu lästig wieder von sich werfen. Zum ersten Mal sah ich hier Knaben, die ein solch ordentliches Postpaket aus ihrer Beute formten. Gewöhnlich sind sie ungeschickt im Verwerten, haben keine Ahnung von Qualität und Preis, schnappen sich das Erstbeste, das ihnen in die Augen sticht. Woher soll es auch kommen? Die haben ihr Leben lang Zugeteiltes auf ihrem Körper getragen, wissen nicht zu sichten und zu wählen, ahnen nicht, was gut und teuer ist. Wenn sie zum Beispiel Bettzeug klauen, so nur, um sich gleich draufzulegen. Ob Eiderdaunen oder Reißwolle, sie sehen keinen Unterschied. Und über jeder anderen Plünderbeute steht ihnen der Schnaps.
Die Buchhändlerin teilt uns, während sie an der Leinwand stichelt, von ihren Neuigkeiten aus. Ja, Stinchen, die Achtzehn-jährige, wird von ihrer Mutter immer noch auf dem Hängeboden gehalten, bleibt neuerdings auch tagsüber dort, seit einmal mit den Wasserholern sich zwei Russen in die Wohnung gedrängt, mit Revolvern herumgefuchtelt und ein Loch in das Linoleum des Fußbodens geschossen haben. Sie sieht käsig aus, die Kleine. Kein Wunder. Dafür ist sie noch heil. Die Buchhändlerin weiß von neuen Hausbewohnern zu berichten, zwei jungen Schwestern, die eine ist Kriegerwitwe, hat einen dreijährigen Jungen. Sie sind in eine der leerstehenden Wohnungen eingerückt und feiern drinnen mit Soldaten, mal am Tag, mal in der Nacht; es soll sehr lustig bei ihnen zugehen. Weiter erfahren wir, daß eine Frau im Hause gegenüber aus dem dritten Stock auf die Straße gesprungen ist, als Iwans hinter ihr her waren. Auf dem Rasenplatz vor dem Kino ist sie begraben worden. Es sollen noch mehr Menschen dort liegen. Ich weiß es nicht, mein Pumpenweg führt in anderer Richtung. Und sonst macht man ja jetzt draußen keine Wege.
So stichelt die Buchhändlerin und murmelt, was sie weiß. Die Fama. Bei dem Wort hab ich mir stets eine verhüllte, murmeln- de Frauengestalt vorgestellt. Das Gerücht. Wir nähren uns davon. In Urzeiten haben die Menschen alle Meldungen und Begebenheiten von dieser Fama bezogen. Man kann sich das Weltbild früher Kulturen gar nicht nebelhaft und schwankend genug vorstellen. Spukhaft, ein Alpdruck, ein Gewoge von gemurmelten Greueln und Ängsten, von Böswilligkeiten und Götterneid. Manchmal in diesen Tagen hab ich das Gefühl, daß
überhaupt nichts mehr stimmt - daß Adolf vielleicht längst per U-Boot bei Franco gelandet ist und auf einem Schloß in Spanien sitzt und für Truman Pläne entwirft, wie der die Russen heimschicken könnte. Zutiefst jedoch immer das Gefühl unserer Niederlage, unseres Preisgegebenseins.
Die beiden Russen kreuzten wieder auf, nahmen zufrieden den zugenähten Packen in Empfang, gaben der Frau das frische Brot. Ich unterhielt mich mit den beiden. Es stellte sich heraus, daß beide keine Russen im Sinne des Volkstums sind: Volksdeutscher aus dem Kubangebiet der eine, der andere ein Pole aus Lemberg. Der Volksdeutsche heißt Adams, seine Vorfahren sind vor 200 Jahren aus der Pfalz ausgewandert. Er bringt einige deutsche Worte hervor, in Pfälzer Mundart, zum Beispieclass="underline" »Es hot gebrennt.« Der polnische Paketknabe ist bildhübsch, schwarzhaarig und blauäugig, lebhaft und flink. Im Nu zerklopft er uns eine Kiste zu Kleinholz. Er wechselt mit der Witwe, die als Kind bei Verwandten auf einem ostpreußischen Gut etwas Schnitterpolnisch aufgeschnappt hat, polnische Phrasen. Mir bietet er an, daß er mit mir Wasser holen gehen wolle.
Ich nahm an, wenn auch zögernd. Beim ersten Wasserholen hatte ich unten neben der Haustür einen Anschlag in Deutsch und Russisch entdeckt, der besagte, daß die Russen von sofort an keine deutschen Wohnungen mehr betreten dürften und sich nicht mit deutschen Zivilisten abzugeben hätten.