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Etliche haben kurz gelacht, die meisten nicht. Ob sie den Arm nachbegraben haben?

Weiter, die Kellerrunde. Mir gegenüber, in Decken einge-wickelt, ein fiebrig schwitzender älterer Herr, Kaufmann von Be-ruf. Ihm zur Seite seine Gattin, die hamburgisch s-pitz s-pricht, und die achtzehnjährige Tochter, ausgerechnet S-tinchen gerufen. Dann die kürzlich eingewiesene Blonde, die keiner kennt, mit ihrem ebenso unbekannten Untermieter Hand in Hand. Die mickrigen Postrats a.D. - sie stets und ständig mit einer Beinprothese im Arm, einem kunstvollen Ding aus Nickel, Leder und Holz - eine unvollständige Pietá. Der einbeinige Sohn dazu liegt - oder lag, man weiß ja nichts - in einem Breslauer Lazarett. Gnomenhaft im Sessel kauert der bucklige Doktor chem. von der Limonadenfirma. Dann Portiers, beste-hend aus Mutter, zwei Töchtern und einem vaterlosen Enkel-sohn. Und Erna und Henni aus dem Bäckerladen, die nicht mehr nach Hause fahren können und nun beim Meister wohnen. Der schwarzlockige Belgier Antoine, der den Bäckergesellen mimt und was mit der Henni hat. Die hinter-lassene Wirtschafterin des Hauswirts, die allen Luftschutzvor-schriften zum Trotz einen ältlichen Foxterrier im Arm hält. Ich selber: blasse Blondine, stets im selben zufällig geretteten Wintermantel; in einem Verlag angestellt, bis dieser vorige Woche seinen Laden schloß und den Angestellten »bis auf weiteres« freigab.

Dazu noch der und jener ohne Farbe. Wir sind der Schamott, den weder Front noch Volkssturm haben wollten. Es fehlt der Bäckermeister, der als einziger im Hause die rote Fahrkarte III hat und damit auf sein Laubengrundstück gefahren ist, um sein

Silber zu vergraben. Es fehlt Fräulein Behn, Postangestellte, unverehelicht und dreist, die eben hinaufgeflitzt ist, als gerade keine Bombe fiel, um das heutige Zeitungsblatt zu holen. Es fehlt eine Frau, die zur Zeit in Potsdam weilt, um dort sieben beim großen Angriff umgekommene Angehörige zu beerdigen. Es fehlt der Ingenieur vom dritten Stock mit Weib und Sohn. Er hat vorige Woche einen Lastkahn bestiegen, der ihn mitsamt seinen Möbeln sicher über den Mittellandkanal nach Braun-schweig bringen soll, wohin sein Rüstungsbetrieb verlagert worden ist. Alle Kräfte drängen ins Zentrum. Dort muß ein gefährlicher Menschen-Überdruck entstehen. Falls nicht auch dort schon die Amis sind. Man weiß ja nichts mehr.

Mitternacht. Kein Strom. Am Balken über mir blakt die Petroleumlampe. Draußen dickes Gebrumm, anschwellend. Der Tüchertick tritt in Tätigkeit. Ein jeder windet sich das bereitgehaltene Tuch um Nase und Mund. Ein gespenstischer Türkenharem, eine Galerie halbverhüllter Totenmasken. Nur die Augen leben.

Samstag, 21. April 1945, 2 Uhr nachts

Bomben, die Mauern schwankten. Meine Finger zittern noch am Füller. Ich bin naß wie nach schwerer Arbeit. Früher aß ich im Keller dicke Butterbrote. Seit ich ausgebombt bin und in der gleichen Nacht beim Bergen Verschütteter half, laboriere ich an meiner Todesangst. Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das Herz klopft Synkopen. Die Augen stieren auf das Stuhlbein gegenüber und prägen sich seine gedrechselten Wulste und Knorpel ein. Jetzt beten können. Das Hirn krallt sich an Formeln, Satzfetzen: »Geh an der Welt vorüber, es ist nichts... Und keines fällt aus dieser Welt... Noli timere...« Bis die Welle sich verzieht.

Wie auf Kommando brach fiebriges Schwatzen los. Alle lachten, überschrien einander, rissen Witze. Fräulein Behn trat mit dem Zeitungsblatt vor und las die Goebbelsrede zum Geburtstag des Führers (ein Datum, an das die meisten überhaupt nicht mehr gedacht hatten). Sie las mit ganz besonderer Betonung, mit einer neuen, spöttischen und bösen Stimme, die man hier unten noch nicht vernommen hat. »Goldenes Korn auf den Feldern... Menschen, die in Frieden leben...« Denkste, sagt der Berliner. Und »Schön wär's ja.« Schalmeientöne, die kein Ohr mehr finden.

Drei Uhr nachts, der Keller duselt so dahin. Mehrfach kam Vorentwarnung, doch gleich hinterher wieder neuer Alarm. Keine Bomben. Ich schreibe, es tut gut, lenkt mich ab. Und Gerd soll es lesen, falls er wiederkommt - falls er überhaupt noch - Nein, ausgestrichen, man darf es nicht heraufbeschwören.

Das junge Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, hat sich an mich herangepirscht und gefragt, was ich schreibe. Ich: »Es hat keinen Wert. Bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe.« Nach der ersten Welle kreuzte »Siegismund« auf, alter Herr aus der Nachbarschaft, den sie aus seinem eigenen Keller hinausgegrault haben, vermutlich, weil er immerzu vom Siege spricht, woraus auch sein Spitzname bei uns resultiert. Siegis-mund glaubt wirklich, daß die Rettung nahe und unser Sieg gewiß sei und daß »Jenner« (unsere neueste Bezeichnung für A. H.) genau wisse, was er tue. Während Siegismund also spricht, blicken sich die Stuhlnachbarn stumm und vielsagend an. Auf einen Disput mit ihm läßt sich keiner ein. Wer diskutiert schon mit Verrückten? Außerdem sind Verrückte manchmal gefährlich. Nur die Portiersfrau stimmt heftig zu und verkündet durch ihre beiden Zahnhauer hindurch, daß auf »Jenner« sowie auf den alten Herrgott Verlaß sei.

Neun Uhr früh, in der Dachwohnung. (Alle meine Zeitangaben sind über den Daumen gepeilt; soweit kein Blick auf Uhren möglich, lebe ich zeitlos.) Grauer Morgen, der Regen pladdert. Ich schreibe auf der Fensterbank, die mein Stehpult ist. Kurz nach drei kam die Entwarnung. Ich zog Kleid und Schuhe aus und fiel ins Bett, das ständig aufgeschlagen ist. Fünf Stunden Tiefschlaf. Das Gas streikt.

Hab soeben mein Bargeld gezählt, 452 Mark, weiß nicht, was ich mit so viel soll, da die wenigen Einkäufe, die uns noch möglich sind, mit Pfennigen bestritten werden können. Dazu mein Konto auf der Bank, auf dem schätzungsweise tausend mangels Waren nicht ausgegebener Mark stehen. (Als ich im ersten Kriegsjahr das Konto anlegte, gedachte ich noch für den Frieden und für eine Reise um die Welt zu sparen. Lang, lang ist das her.) Manche Leute rennen dieser Tage zu den Banken, soweit sie noch in Betrieb sind, und heben das Ihre ab. Wozu eigentlich? Wenn wir absausen, ist auch die Mark im Eimer. Geld, d.h. Papiergeld, ist ja nur eine Fiktion und stellt keinen Wert mehr dar, wenn die Zentrale ausfällt. Ich blättere ohne jedes Gefühl in dem Geldbündel. Mir ist, als könnte das Zeug allenfalls noch als Andenken gelten. Als Bildchen aus versunkenen Zeiten. Ich nehme an, daß die Sieger ihr eigenes Geld mitbringen und uns damit ausstaffieren werden. Oder daß irgendein Militärgeld gedruckt wird - falls man uns überhaupt wieder so weit kommen läßt und uns nicht zur Arbeit für einen Schlag Suppe verdammt.

Mittags. Unendlicher Regen. Bin zu Fuß in die Parkstraße marschiert und habe mir zu meinen »Papierbildchen« noch einen Packen hinzugeholt. Der Prokurist zahlte mir den letzten Monatslohn und erteilte mir »Urlaub«. Der ganze Verlag hat sich in Luft aufgelöst. Und das Arbeitsamt hat ausgepustet, niemand macht dort mehr Jagd auf frei werdende Arbeitskräfte; insofern sind wir jetzt alle unsere eigenen Herrn.

Die Bürokratie erscheint mir als eine Schönwettersache. Jedenfalls lösen sich alle Ämter auf, sobald es Granatsplitter regnet. (Übrigens jetzt sehr ruhig. Beängstigende Stille.) Wir werden nicht mehr regiert. Und doch stellt sich von selbst immer wieder eine Art von Ordnung her, überall, in jedem Keller. Ich habe bei meiner Ausbombung erlebt, wie selbst die Verschütteten, die Verletzten, die Verstörten in guter Ordnung vom Schauplatz verschwanden. Auch hier im Hauskeller haben die ordnenden, anordnenden Geister Autorität. Es muß im Menschen drinstecken. Schon zur Steinzeit muß die Menschheit so funktioniert haben. Herdentiere, Instinkt der Arterhaltung. Bei den Tieren sollen es ja immer die männlichen sein, die Leitbullen und die Leithengste. In diesem Keller kann man eher von Leitstuten reden. Fräulein Behn ist so eine; auch die sehr ruhige Hamburgerin. Ich bin keine, war es auch in meinem alten Keller nicht, wo allerdings ein mächtig herumbrüllender Leitbulle das Feld beherrschte, ein Major a.D., der nicht Mann noch Weib neben sich aufkommen ließ. Mir war das erzwungene Beisammenhocken im Keller stets zuwider, hab mich immer abgesondert, mir einen Schlafwinkel gesucht. Aber wenn das Leittier ruft, folge ich willig.