Immer noch kühl, doch klart es auf, kleiner Sonnenstrahl. Die Nacht wieder ziemlich unruhig, der Major erwachte öfters und weckte mich durch sein Stöhnen. An sich soll das Knie auf dem Wege der Besserung sein.
Nur wenn er sich daran stößt, tut es ihm weh. Trotzdem gab er mir wenig Ruhe. Übrigens berichtete er mir von den beiden Sauf- und Jubelschwestern, die in die verlassene PG-Wohnung eingerückt sind. Unter den Namen Anja und Lisa sind sie offenbar unter den russischen Offizieren sehr populär. Eine der Schwestern hab ich auf der Treppe gesehen: sehr hübsch, schwarz und weiß, groß und zart. Der Major berichtete achselzuckend und leicht geniert von dem munteren Treiben der beiden Frauen: Man habe ihn heute am hellichten Vormittag in die Wohnung gebeten, wo die Mädchen mit zwei Männern zu Bett gelegen und ihn lachend aufgefordert hätten, sich dazuzulegen - ein Angebot, das den gutbürgerlich denkenden Major noch beim Erzählen schockierte. Ein Anziehungspunkt für die Russen soll auch das sehr niedliche dreijährige Söhnchen der einen Schwester sein - der Major sagt, daß es schon drei Worte Russisch plappert und von den männlichen Besuchern nach Kräften verwöhnt wird.
Weiter, der neue Tag. Es ist so sonderbar, ohne Zeitung, ohne Kalender, ohne Uhrzeit und Ultimo zu leben. Die zeitlose Zeit, die wie Wasser dahinrinnt und deren Uhrzeiger für uns einzig die Männer in den fremden Uniformen sind.
Manchmal erstaunt es mich selbst, mit welcher Ausdauer ich diese zeitlose Zeit fixiere. Es ist mein zweiter Versuch eines schriftlichen Selbstgesprächs. Den ersten unternahm ich als Schulmädel. Wir waren fünfzehn, sechzehn Jahre alt, trugen weinrote Schülermützen und diskutierten endlos über Gott und die Welt. (Manchmal auch über Jungens, aber sehr herab-lassend.) Als unser Geschichtsprofessor mitten im Schuljahr einen Schlaganfall erlitt, mußte zu seiner Vertretung eine Anfängerin einspringen. Eine stupsnasige Assessorin, die wie eine Explosion in unsere Klasse platzte. Keck widersprach sie unserem patriotischen Geschichtsbuch. Friedrich den Großen nannte sie einen Hasardeur. Dafür lobte sie den sozialdemo-kratischen Reichspräsidenten Ebert, den unser verflossener Professor gern als »Sattlergesellen« ironisiert hatte. Nach solchen Verwegenheiten blitzte sie uns schwarzäugig an und rief mit beschwörend erhobenen Händen: »Mädels, ändert die Welt, denn sie braucht es!«
Das gefiel uns. Wir mochten die Welt von 1930 auch nicht. Wir lehnten sie höchst energisch ab. Sie war so verworren und für uns junge Menschen so verrammelt. Es gab Millionen Arbeitslose. Täglich bekamen wir zu hören, daß die meisten der von uns erstrebten Berufe aussichtslos seien und daß die Welt keineswegs auf uns warte.
Zufällig fanden damals gerade einmal wieder deutsche Reichstagswahlen statt. Jeder Abend brachte Versammlungen der zehn oder fünfzehn größten Parteien. Wir stiefelten hin, grüppchenweise, angestachelt von unserer Assessorin. Wir arbeiteten uns von den Nationalsozialisten über Zentrum und Demokraten zu den Sozialdemokraten und Kommunisten durch, hoben bei den Nazis die Hand zum Hitlergruß und ließen uns bei den Kommunisten »Genossin« titulieren. Damals startete ich mein erstes Tagebuch, aus dem Wunsch heraus, mir eine Meinung zu bilden. Neun Tage lang, glaube ich, schrieb ich getreulich die Kernsätze der Wahlredner nach - meine jugendlichen Widerworte dazu. Am zehnten Tag gab ich es auf, obwohl mein Schreibheft noch viele weiße Blätter aufwies. Ich fand nicht mehr heraus aus dem Gestrüpp der Politik. Meinen Schulfreundinnen erging es ebenso. Jede Partei, so fanden wir, besaß einen Zipfel des Rechts. Aber jede betrieb und erstrebte auch, was wir Kuhhandel nannten: den Schacher, die Ämterjagd, das Geprügel um die Macht. Keine Partei, so fanden wir, war rein. Keine war unbedingt. Heute meine ich, daß wir wohl eine Partei der Sechzehnjährigen hätten gründen müssen, um unseren moralischen Ansprüchen zu genügen. Was wächst, wird schmutzig.
Der Montag brachte uns über Mittag Besuch. Nicht aus dem Haus und nicht von nebenan, sondern aus einem zwei Fußstunden weit entfernten Stadtteil im Westen, aus Wilmersdorf. Ein Mädchen namens Frieda, der Witwe vom Hörensagen bekannt. Es hängt eine ganze Geschichte drum herum, die anfängt mit einem Neffen der Witwe, einem jungen Medizinstudenten. Besagter Student hatte eines Nachts in seiner Universität Luft-schutzwache. Eine junge Medizinstudentin war gleichzeitig zum Luftschutz eingeteilt. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Wache war eine Schwangerschaft und, da des Mädchens Eltern drängten, eine Hals über Kopf geschlossene Ehe - sie neunzehn, er einundzwanzig Jahre alt. Inzwischen hat irgendein General Heldenklau den jungen Mann für die Front geschnappt. Man weiß nicht genau, wo er denn steckt. Seine junge Gattin aber, nun im achten Monat schwanger, ist mit einer Freundin zusammengezogen, eben jener Frieda, die nun bei uns auf dem Küchenstuhl hockt und Botschaft bringt.
Die erste Frage der Witwe: »Haben sie euch auch - ?«
Nein, Frieda kam heil durch, das heißt, nicht ganz heil, einer hat sie im Kellergang ein bißchen an die Wand gedrückt, mußte aber gleich weiter, Krieg führen, so daß er sich nicht zu Ende verlustieren konnte. Überhaupt sind die Truppen durch den Block, in dem die Mädels hausen, sozusagen im Galopp durch-gebraust, kurz vor der Kapitulation, ohne sich irgendwie festzusetzen. Die werdende Mutter hat auf ihr Bäuchlein getippt und »Baby« gesagt - sie hat man gar nicht angerührt.
So berichtet die Kleine und sieht uns mit blanken, wie poliert wirkenden Augen an. Ich kenne diese Augen, hab allzuoft meine eigenen Augen so aus dem Spiegel schauen sehen, als ich von Brennesseln und Grütze lebte. Tatsächlich hakt es da bei den Mädeln, und deshalb hat Frieda die mühseligen Fußstunden auf sich genommen, die, wie sie sagt, durch völlig stumme, öde Straßen führten. Sie bittet für die angeheiratete Nichte der Witwe und ihren werdenden Bams um Nahrung. Sie berichtet, daß die junge Frau den ganzen Tag flach auf dem Rücken liege und beim geringsten Versuch, aufzustehen, Schwindelanfälle habe. Eine Krankenschwester sieht gele-gentlich nach ihr und hat ihr erklärt, daß die Frucht, sobald die Mutter sich nicht ausreichend ernähren kann, ihre Werdestoffe aus dem mütterlichen Körper herausholt, schmarotzend an Kalk und Blut und Muskelsubstanz. Die Witwe und ich suchen zusammen, was wir glauben, verschenken zu dürfen: etwas von der Majorsbutter und von seinem Zucker, eine Büchse Milch, ein Brot, ein Stück Speck. Frieda ist selig. Auch sie sieht jammervoll aus, hat Beine wie Stecken, die Knie treten knorrig hervor. Dabei ist sie ganz munter und fürchtet sich nicht vor den zwei Stunden Heimweg. Wir freuen uns über die Botin aus dem fernen Stadtteil, lassen uns ausführlich schildern, welchen Weg sie genommen hat, was sie unterwegs sah. Wir streicheln sie und strahlen sie an, die kälbrige, halb verhungerte Achtzehnjährige, die, wie sie uns erzählt, einmal Gymnastiklehrerin werden wollte. Na, einst-weilen dürfte für Gymnastik in unserem Lande kaum Bedarf sein. Wir sind froh um jede Bewegung, die wir nicht zu machen brauchen. Das heißt, die anderen, Hungernden, sind dessen froh. Mich trifft es vorläufig noch nicht, ich bin gut bei Kräften. Die Witwe berührt den neuralgischen Punkt, als sie der Frieda vorschlägt: »Wie ist das, Kindchen, könnten Sie sich nicht irgendeinen halbwegs netten Russen anlachen? Damit der euch ein bißchen Futter bringt?«
Frieda lächelt töricht und meint, es gebe bei ihnen im Block so gut wie keine Russen mehr, sonst... Und sie kramt die Geschenke zusammen, verstaut sie in der mitgebrachten Einkaufstasche.
Uns hat dieser Besuch sehr aufgemöbelt. Wir sind also doch nicht abgeschnitten von aller Welt, könnten eine Fußreise in andere Stadtteile zu Freunden und Bekannten riskieren. Seither planen wir immerzu und überlegen, ob wir es wagen sollen. Herr Pauli ist dagegen. Er sieht uns bereits für irgendwelche Zwangsarbeit aufgegriffen und einkassiert, möglicherweise in Richtung Sibirien. Wir pochen auf Frieda, die es ja auch geschafft hat, bohren weiter.
Weiter, dies schreibe ich am späten Nachmittag. Schon habe ich die erste große Reise hinter mir. Es kam ganz überraschend. Ich hockte auf der Fensterbank, obwohl man auf der Straße nur selten einen Menschen sieht außer Wasserho-lern und Russen. Da, ein Russe kommt herangeradelt, hält vor unserer Tür - der Major. Ich - sogleich treppab gerannt. Ein blitzblankes, neues deutsches Herrenrad. Ich bitte und bettle: »Darf ich ein Stück fahren? Bloß fünf Minuten?« Der Major steht am Bordstein und wiegt das Haupt. Er weiß nicht recht, befürchtet, daß mir das Rad unterwegs gestohlen werden könnte. Schließlich bekam ich ihn herum.