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Sonne. Im Handumdrehen wird es nun warm. Ich trete die Pedale, so schnell ich kann. Wind braust mir in den Ohren. Ich sause, weil es mich glücklich macht nach all der elenden Seßhaftigkeit - und auch, damit mich keiner festhält und mir das Rad klaut. Vorüber an schwarz verbrannten Ruinen. Hier liegt der Krieg einen Tag länger zurück als bei uns. Man sieht bereits Zivilisten, die den Bürgersteig fegen. Zwei Frauen ziehen und schieben einen völlig ausgeglühten Operationswagen, wohl aus Trümmern geholt. Oben darauf liegt eine Greisin unter einer Wolldecke, mit blutleerem Gesicht; doch sie lebt noch.

Je weiter ich südwärts fahre, desto mehr weicht der Krieg zurück. Hier sieht man bereits Deutsche in Gruppen beisam-menstehen und schwatzen. An unserer Ecke wagen die Menschen das noch nicht. Sogar Kinder sieht man, hohlwangig und eigentümlich lautlos. In den Schrebergärten buddeln Frauen und Männer. Ganz vereinzelt nur bemerkt man Russen. Vor dem Tunnel ragt noch eine vom Volkssturm errichtete Barrikade. Ich steige ab, schiebe mein Rad durch den freien Spalt an der Seite. Hinter dem Tunnel, auf dem Rasenplatz vor dem S-Bahnhof, wölbt sich kniehoch ein Hügel, mit Grün besteckt, mit drei knalligrot angestrichenen, etwa hüfthohen Holzsäulen geschmückt. An jeder Säule ist eine Tafel befestigt, handbeschriebenes Papier unter Glas, von einem Papierstrei-fen eingefaßt. Ich lese auf den Tafeln drei russische Namen und dazu die Todesdaten, 26. und 27. April 1945.

Ich stand eine ganze Weile. Dies ist meines Wissens das erste Russengrab überhaupt, das ich so nah sehe. Hab drüben auf meiner Durchreise nur flüchtig Totenäcker zu Gesicht bekommen; verwitterte Tafeln, schief stehende Kreuze, Trübsal und Vergessenheit der Dorfarmut. In unseren Zeitungen ist wieder und wieder berichtet worden, daß der Russe seine Kriegstoten verstecke wie eine Schmach, daß er sie in Massengräbern verbuddle und die Erde darüber feststampfe, um den Fleck unkenntlich zu machen. Dies kann nicht stimmen. Solche Holzsäulen und Schilder müssen sie mit sich führen. Das ist Fabrikware, ist nach einem Schema angefertigt, mit einem weißen Holzstern obendrauf - grob, billig, unschön durch und durch, doch ein Mal, rot leuchtend, überdeutlich, schreiend und grell, nicht zu übersehen. Sie werden solche Säulen auch in ihrem Land aufstellen. Demnach betreiben auch sie Gräberkult, ja Heldenverehrung, obwohl doch ihr offizielles Dogma nichts von einer Auferstehung des Fleisches weiß. Wenn es sich um eine bloße Markierung der Grabstellen handelte, zwecks späterer Umbettung, so würde ein simples Namen- oder Nummernschild genügen. Da könnten sie sich die viele rote Farbe und Sternschnitzerei sparen. Aber nein, sie umgeben den Soldatentod mit rotem Nimbus, opfern Arbeit und nützliches Holz für eine Gloriole, mag sie noch so armselig sein.

Ich trete wieder die Pedale, so schnell ich kann, sehe bereits das Landhaus liegen, in dem zuletzt meine Firma notdürftig untergebracht war. Ob wohl das kleine Würmlein im Erdge-schoß die milchlose Zeit lebend überstand?

Kein Kind, keine junge Mutter, niemand mehr da von den Leuten, die im Erdgeschoß hausten. Auf mein Klopfen und Rufen erscheint nach einiger Zeit ein älterer Mann, stopplig, in einem schmutzigen Trikot-Unterhemd. Es dauert eine Weile, bevor ich ihn erkenne. Es ist der gewesene Prokurist unseres gewesenen Verlages, früher tipptopp bis zum Hemdkragen, nun herabgekommen und dreckig. Er erkennt mich, doch ohne Gefühlsregung, sagt mürrisch, daß er mit seiner Frau hier untergekrochen sei, da es seine Wohnung noch am letzten Kriegstag erwischt habe. Im übrigen ist das Landhaus leer, auch von Möbeln - der Prokurist fand es bereits ausgeräumt vor. Er weiß nicht, ob Deutsche oder Russen das Ausräumen besorgten - vermutlich beide. Das Haus ist durchwühlt und versaut, überall stinkt es nach Kot und Urin. Immerhin liegt im Keller noch ein Berg Kohle. Ich suchte mir einen leeren Karton, packte ihn mit Briketts voll, sehr zum Mißvergnügen des Prokuristen; doch ihm gehören die Kohlen ja nicht mehr als mir. Er dachte nicht dran, mir zu helfen. Mühselig schleppte ich meinen Karton zum Rad und band ihn mit meinem Kleidergürtel und einem gefundenen Stück Strippe auf dem Gepäckblech fest.

Los, zurück, im schnellsten Tempo. Ich raste die Straße hinauf, diesmal vorbei an endlosen Reihen Soldaten, die am Bordstein entlang hockten. Typische Infanterie, Frontschweine, müde, dreckig, verstaubt, mit Stoppelbärten auf den schmutzigen Gesichtern. Solche Russen sah ich noch gar nicht bisher. Es dämmerte mir, daß wir wohl Elitetruppen in den Häusern hatten, Artillerie, Nachrichtentruppen, gewaschene und gutrasierte Leute. Am niedrigsten stand noch der Troß und Train, roch nach Pferden, wirkte aber bei weitem nicht so erschöpft wie dieser Haufen. Die sind viel zu abgekämpft, als daß sie sich um mich oder mein Rad bekümmerten. Sie blickten kaum hoch, haben spürbar einen Gewaltmarsch hinter sich.

Schnell, schnell, da ist schon unsere Ecke. Um die gewesene Schupo-Kaserne herum wimmelt es von Autos. Sie fahren mit tiefem, sattem Gebrumm, es riecht nach richtigem Benzin. So rochen die deutschen Autos nicht.

Keuchend und stolz schleppe ich Rad und Brikettlast die Treppe hinauf. Diesmal kommt der Major mir entgegengerannt, ist ganz aufgeregt, wähnte das Rad bereits geklaut und mich werweißwo. Auch der Usbek ist inzwischen eingetrudelt. Die Witwe schickt ihn gleich mit zwei Eimern zur Pumpe, Wasser für uns zu holen. Er ist schon wie ein Stück Familie für uns, trottet gutmütig los.

Ich bin ganz sonnetrunken und beseligt von der schnellen Fahrt, fühle mich so froh, so beschwingt wie seit Wochen nicht. Überdies hat der Major Tokaier mitgebracht, fünfbuttig, wir trinken, mir ist katzenwohl. Der Major blieb bis 17 Uhr; als er ging, war mir schon mies. Hab geweint.

(Wochen später an den Rand gekritzelt, zur Verwendung für Romanautoren: »Drei Herzschläge lang verschmolz ihr Leib mit dem fremden Leib über ihr. Ihre Nägel krallten sich in das fremde Haar, aus ihrer Kehle brachen Schreie, und sie hörte die fremde Stimme fremde, unverständliche Worte flüstern. Eine Viertelstunde später war sie allein. Durch die zerschla-genen Scheiben fiel Sonne in breiten Garben. Sie streckte sich und genoß die Schwere ihrer Glieder. Sie strich sich die zerwühlten Strähnen aus der Stirn. Plötzlich spürte sie mit unheimlicher Deutlichkeit, wie eine andere Hand, wie die Hand des fernen, vielleicht längst toten Freundes sich unter ihr Haar schob. Sie fühlte etwas in sich anschwellen und überwallen. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Sie warf sich herum, sie schlug mit Fäusten auf die Polster, sie biß sich in die Hände und Arme, daß blaurote Zahnkränze hervortraten. Sie heulte in die Kissen hinein und wünschte zu sterben.«)

Dienstag, 8. Mai 1945, mit Montagsrest

Zum Abend waren wir allein, Herr Pauli, die Witwe und ich. Rot ging die Sonne unter. Ein widerliches Bild, es erinnert mich an all die Brände, die ich in den letzten Jahren sah. Zusammen gingen die Witwe und ich zum kleinen Teich, um Schmutz-wasser zu schöpfen. (Fürs Trinkwasser von der Pumpe muß man als Deutscher immer noch eine runde Stunde rechnen.)

Es mochte acht sein, wir leben ohne Uhr; denn der in ein Handtuch gewickelte, hinten im Schrank versteckte Wecker hat Mucken gekriegt und bleibt stehen, wann er will. Rings um den Teich Stille. Im brackigen Wasser schwimmen Holzstücke, Lumpen, grüne Parkbänke. Wir schöpfen die trübe Brühe in unsere Eimer, stapfen zurück, den dritten Eimer überschwap-pend zwischen uns. Neben der morschen Holztreppe auf dem Rasenhang liegt etwas. Ein Mensch, ein Mann; er liegt rücklings auf dem Rasen, die Knie hochgezogen.