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Nun ist schon Abend, Mittwoch, 9. Mai. Schreibend hocke ich auf der Fensterbank. Draußen Sommer, der Ahorn ist dunkelgrün, die Straße sauber gefegt, leer. Ich nutze den letzten Tagesschein, denn nun heißt es Kerzen sparen. Niemand wird uns neue bringen.

Vorbei ist es nun auch mit Schnaps, Zucker, Butter, Fleisch. Könnten wir nur erst an die Kartoffeln heran! Noch getraut sich keiner, die Barrikade vorm Hauskeller niederzulegen. Man weiß ja nicht, ob sie wiederkommen oder ob neue Truppen nachrücken. Die Witwe predigt und predigt, allerdings nicht von den Lilien auf dem Felde, deren Beispiel allein für uns paßte. Sie spinnt bange Zukunftsgedanken, sieht uns alle verhungern, wechselte einen Blick mit Herrn Pauli, als ich um einen zweiten Teller Erbsensuppe bat.

Flak knattert in mein Geschreibe hinein. Es heißt, sie üben für eine Siegesparade, zu der auch Amerikaner eintreffen sollen. Schon möglich. Sollen sie feiern, uns geht es nichts an. Wir haben kapituliert. Trotzdem spüre ich Lebenslust.

Weiter, dies schreibe ich nachts, bei Kerzenschein, mit einer Kompresse um die Stirn. Gegen acht Uhr abends schlugen Fäuste an unsere Vordertür: »Feuer! Feuer!« Wir - hinaus. Draußen grelle Helle. Flammen züngelten aus dem Ruinenkeller zwei Häuser weiter, leckten schon zur Brandmauer des heilen Nebenhauses empor. Beißender Qualm drang aus einem Loch im Getrümmer, kroch die Straße hinauf. Es wimmelte von Schatten, Zivilisten. Rufe und Geschrei.

Was tun? Wasser gibt es nicht. Der Feuerherd lag unten im Keller der Ruine. Glutheiße Luft, Wind kam auf, es war wie in Bombennächten. Deshalb regte sich auch keiner auf. »Ersticken«, hieß es. »Mit Trümmern das Feuer zudecken.« Im Nu hatten sich zwei Ketten formiert. Gesteinsbrocken wanderten von Hand zu Hand. Der Letzte schleuderte sie in die Flammen. Einer rief, daß wir uns beeilen müßten, es sei gleich neun - und um zehn Uhr abends müssen Zivilisten von der Straße verschwunden sein.

Von irgendwoher rollten Gestalten ein Faß an, wir schöpften mit Eimern eine stinkige Brühe daraus. Beim Weitergeben der Eimer haute mir eine Frau versehentlich die Zinkkante gegen die Schläfe. Ich sah gleich Funken, taumelte zu einem Steinbrocken auf dem Rasen gegenüber, dem Gräber-Rondell, hockte mich nieder. Eine Frau setzte sich zu mir und berichtete eintönig, daß »die da unten« ein Offiziers-Ehepaar seien, mit Cyankali vergiftet. Das wußte ich schon, ließ aber die Frau reden. »Kein Sarg, gar nichts«, sagte sie. »Die sind bloß in Verdunkelungspapier gewickelt, mit der Strippe drum rum. Die hatten ja nicht mal Laken auf den Betten, waren bloß als Verbombte eingewiesen.« Aber das Gift müssen sie doch parat gehabt haben.

Mir war schwindlig, ich spürte förmlich, wie die Beule auf der Stirn wuchs. Das Feuer war bald eingekreist und zugedeckt. Ich gesellte mich zu einer schimpfenden Gruppe und erfuhr die Ursache des Brandes: Ein Feinkosthändler, der früher in diesem zerstörten Haus sein Geschäft führte, hatte im teilweise erhaltenen Keller Reste seines Weinlagers belassen. Die Russen hatten es entdeckt, ich möchte sagen, gerochen, und hatten die Regale, Kerzen in Händen, ausgeräumt. Dabei war versehentlich Flaschenstroh ins Glimmen geraten, woraus sich langsam der Brand entwickelt hatte. Ein Mann berichtet: »Stockblau haben die Kerls den Rinnstein lang gelegen. Ich hab selber gesehen, wie einer, der noch aufrecht in seinen Stiefeln stand, an der Reihe langgegangen ist und seinen Genossen die Uhren vom Arm geknöpft hat.« Darob Gelächter.

Nun liege ich im Bett, schreibe, kühle meine Beule. Für morgen planen wir eine große Reise quer durch Berlin nach Schöneberg.

Donnerstag, 10. Mai 1945

Der Morgen ging hin mit Hausarbeit, Holzzerklopfen, Wasserholen. Die Witwe badete ihre Füße in Sodawasser und probierte Frisuren aus, bei denen sich möglichst viel Grauhaar verstecken läßt. Um drei Uhr nachmittags waren wir endlich startbereit. Unser erster Gang durch die eroberte Stadt.

Arme Worte, ihr reicht nicht aus.

Wir stiegen über den Friedhof an der Hasenheide, mit den langen, gleichförmigen Gräberreihen im gelben Sand, vom letzten großen Luftangriff im März her. Sommersonne brannte. Der Park lag wüst. Die Unsrigen hatten seinerzeit noch die Bäume gefällt, um das Schußfeld freizulegen. Überall Lauf-gräben, darin verstreut Lumpen, Flaschen, Büchsen, Drähte, Munition. Auf einer Bank hockten zwei Russen mit einem Mädel. Selten bewegt sich draußen ein Russe allein. Zu zweit fühlen sie sich wohl sicherer. Weiter, durch einstmals dichtbevölkerte Arbeiterstraßen. Jetzt könnte man glauben, daß die zehntausend, die hier lebten, ausgewandert oder tot seien; so stumm sind die Straßen, so verschlossen und verkrochen wirken die Häuser. Kein Lebenslaut von Mensch oder Tier, von Auto, Radio oder Straßenbahn. Nur lastende Stille, in der wir unsere Schritte hören. Wenn uns aus den Häusern jemand nachblickt, so tut er es verstohlen. Wir sehen kein Gesicht hinter den Fenstern.

Weiter, hier beginnt der Stadtteil Schöneberg. Gleich wird sich zeigen, ob wir weiterkönnen, ob eine der Brücken heil blieb, die über die S-Bahn führen, zum Westen hin. Zum ersten Mal sehen wir an einigen Häusern rote Fahnen, vielmehr Fähnchen - offenbar aus ehemaligen Hakenkreuzfahnen herausge-schnitten; manchmal sieht man noch den dunkleren Kreis, von dem der weiße Stoff mit dem schwarzen Hakenkreuz darauf abgetrennt wurde. Die Fähnchen sind - wie könnte es in unserem Lande anders sein? - von Frauenhand sauber umsäumt.

Am Wege überall Hinterbleibsel der Truppen, ausgeweidete Autos, ausgebrannte Panzer, verbogene Lafetten. Hin und wieder ein Schild, ein Plakat in Russisch, das den 1. Mai feiert, Stalin, den Sieg. Auch hier kaum Menschen. Manchmal huscht ein armseliges Geschöpf vorbei, ein Mann in Hemdsärmeln, eine ungekämmte Frau. Keiner beachtet uns groß. »Ja, die Brücke steht noch«, antwortet auf unsere Frage eine barfüßige, verkommene Frau und hastet davon. Barfuß? In Berlin? Hab sowas nie zuvor bei einer Frau gesehen. Auf der Brücke noch eine Barrikade aus Trümmersteinen. Wir schlüpften durch den Spalt, mein Herz klopfte heftig dabei.

Grelle Sonne. Die Brücke leer. Wir verhielten, blickten auf den Bahndamm hinunter. Ein Gewirr von strohgelben Gleisen, dazwischen metertiefe Krater. Schienenstücke ragen hochge- bogen in die Luft. Polster und Fetzen quellen aus zerbombten Schlafwagen und Speisewagen. Die Hitze brütet. Brandgeruch hängt über den Schienen. Rings Öde und Verlassenheit, kein Hauch von Leben. Das ist der Kadaver von Berlin.

Weiter nach Schöneberg hinein. Da und dort in der Tür eine Frau, ein Mädeclass="underline" blicklos das Auge, die Züge schwammig und gedunsen. Ich kann von ihnen ablesen, daß der Krieg hier erst wenige Tage vorbei ist. Die haben sich noch nicht gefangen, sind noch so betäubt, wie wir es vor etlichen Tagen waren.

Wir traben die Potsdamer Straße hinunter, vorbei an schwarz ausgebrannten Ämtern, leeren Hochhäusern, Schutthaufen.

An einer Ecke rührendes Bild: Vor einem Schutthaufen, der sie weit überragte, zwei alte, klapprige Frauen, die etwas Dreck mit einer Kohlenschaufel abkratzten und in ein Kärrchen füllten. Wenn sie so weitermachen, brauchen sie Wochen für den Berg. Sie haben knorrige Hände, vielleicht schaffen sie es.

Der Kleistpark ist eine Wüste. Unter den Arkaden lagern Lumpen, Matratzen und herausgerissene Autopolster. Überall Kothaufen, von Fliegen umsummt. Mittendrin der halbfertige Hochbunker, wie ein Igel von Eisenstacheln umstanden. Vermutlich sollten wir darin im siebten Kriegsjahr Zuflucht vor Bomben suchen. An einem Balkenstapel davor zerren zwei Zivilisten, einer sägt handliche Stücke herunter. Alles gehört allen. Kläglich kratzt die Säge durch all die Stille. Unwillkürlich flüsterten die Witwe und ich miteinander, der Hals war uns trocken, die tote Stadt verschlug uns den Atem. Die Luft im Park war voll Staub, alle Bäume schienen weiß überpudert, waren von Schüssen durchsiebt und schwer verwundet. Ein deutscher Schatten hastete vorbei, schleppte Bettzeug. Am Ausgang ein Russengrab, mit Draht umzäunt. Wieder grellrote Holzstelen darauf, und dazwischen eine flache Granitplatte, auf die mit Kalk gepinselt steht, daß hier Helden ruhen, fürs Vaterland gefallen. Geroi, so lautet das Wort, Heros, Held. Es klingt so preußisch.