Unterwegs bin ich neben der Straßenbahn hergelaufen. Einsteigen durfte ich nicht, da ich keinen Ausweis III habe. Dabei fuhr die Bahn fast leer, ich zählte acht Menschen im Wagen. Und Hunderte liefen im strömenden Regen nebenher, obwohl die Bahn, die ja doch fahren muß, sie gut und gern hätte mitnehmen können. Aber nein - siehe Ordnungsprinzip. Es steckt tief in uns drin, wir parieren.
Hab im Bäckerladen Brötchen gekauft. Noch sind die Borde scheinbar voll, man sieht keine Kaufangst. Ging hinterher zur Kartenstelle. Heute war mein Buchstabe für die Abstempelung der Kartoffelabschnitte 75 bis 77 dran. Es ging überraschend schnell, obwohl statt der sonst so vielen nur noch zwei Kartendamen Dienst taten. Sie schauten gar nicht hin, stempelten die Abschnitte mechanisch wie Maschinen. Wozu eigentlich diese Stempelei? Keiner weiß es, doch alle gehen hin, nehmen an, daß es schon irgendeinen Sinn hat. Laut Aushang sollen am 28. April die Buchstaben X bis Z den Schluß machen.
Durch den Regen zockelten Karren in Richtung der Stadt, mit pitschnassen Planen verhängt, darunter Soldaten. Ich sah zum ersten Mal dreckige, graubärtige Typen, die richtigen Frontschweine, alle alt. Vor den Karren Panjepferdchen, dunkel vor Nässe. Die Ladung der Karren: Heu. Sieht nicht mehr nach motorisiertem Blitzkrieg aus.
Auf dem Heimweg drang ich in Professor K.s verlassenen Garten ein, hinter der schwarzen Hausruine, pflückte Krokus und brach Flieder. Trug einen Teil davon zur Frau Golz, einer Mitbewohnerin aus meinem früheren Wohnhaus. Wir saßen einander am Kupfertisch gegenüber und plauderten. Das heißt, wir brüllten gegen die frisch einsetzende Schießerei an. Frau Golz, mit gebrochener Stimme: »Die Blumen, die wunder-schönen Blumen...« Dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Auch mir war scheußlich zumute. Schönheit tut jetzt weh. Man steckt so voll Tod.
Hab mir heute früh überlegt, wieviel Tote ich schon gesehen habe. Der erste war Herr Schermann. Ich war damals fünf, er siebzig, silberweiß auf weißer Seide, Kerzen zu Häupten, bedeutsam und erhöht. Also war der Tod feierlich und schön. Bis ich 1928 von Hilde und Kate P. ihren tags zuvor verstorbenen Bruder Hans gezeigt bekam. Wie ein Lappen-bündel lag er auf dem Sofa, das Kinn mit einem blauen Tuch hochgebunden, die Knie krumm - ein Dreck, ein Garnichts. Später tote Verwandte, blaue Fingernägel zwischen Blumen und Rosenkränzen. Dann in Paris der Überfahrene im Blutbrei. Und der Erfrorene an der Moskwa...
Tote, ja, aber das Sterben selbst sah ich noch nie. Dies Erleben wird mir nun wohl bald zuteil werden. Daß es mich selber erwischen könnte, glaub ich nicht. Bin schon so oft dem Tod von der Schippe gerutscht und fühle mich aufgespart. Es wird dies ein Gefühl sein, das in den meisten Menschen lebt. Wie könnten sie sonst inmitten von so viel Tod so aufgekratzt sein? Fest steht, daß die Bedrohung des Lebens die Lebens-kräfte steigert. Ich brenne heftiger und mit größerer Flamme als vor dem Bombenkrieg. Jeder neue Lebenstag ist ein Triumphtag. Man hat es wieder mal überlebt. Man trotzt. Man richtet sich gleichsam höher auf und steht fester auf der Erde. Damals, als wir das erste Mal von Bomben durchgeblasen waren, hab ich mir an die Zimmerwand mit Bleistift ein Stück Latein angeschrieben, das ich noch zusammenbrachte:
Si fractus illabatur orbis,
Impavidum ferient rumae.
Damals konnte man noch ins Ausland schreiben. Ich hab in einem Brief an meine Freunde D. in Stockholm kraftprotzend und wohl auch, um mich selber zu stärken, den obigen Vers zitiert und von der Intensität unseres bedrohten Daseins geschrieben. Ich hatte dabei ein leicht itleidiges Gefühl, als ob ich, nun erwachsen und an den Kern des Lebens zugelassen, mit unschuldigen Kindlein spräche, die es zu schonen galt.
Sonntag, 22. April 1945, 1 Uhr nachts
Ich lag oben auf dem Bett, es wehte durch die zerbrochenen Scheiben, ich döste so vor mich hin, an den Füßen einen Ziegelstein, in Stunden auf winzigen Gasflämmchen heiß ge-macht. Gegen 20 Uhr klopfte Frau Lehmann: »Kommen Sie herunter, es gibt jetzt keinen Alarm mehr und keine Sirenen. Die anderen sind schon alle unten.«
Halsbrecherischer Treppenabstieg. Ich blieb einmal mit dem Absatz an einer Stufenkante hängen. Todesschreck, konnte mich eben noch am Geländer fangen. Weiter, mit weichen Knien. Ich suchte und tastete lange und herzklopfend in dem stockfinsteren Gang herum, bis ich die Hebel der Kellertür fand.
Drinnen ein neues Bild. Wer eben kam, hat sich ein Bett auf-geschlagen. Überall Kissen, Deckbetten, Liegestühle. Mühsam würge ich mich zu meinem Sitzplatz durch. Das Radio ist tot, es gibt keine Funkzeichen vom Flughafen mehr. Matt blinzelt die Petroleumlampe. Etliche Bomben fallen, dann ist Ruhe. Siegismund erscheint, hält immer noch die Fahne hoch. Gardinenschmidt murmelt was von Bernau und Zossen, wo nun die Russen stehen sollen: Siegismund verkündet dagegen die nahe Wende. Wir hocken, die Stunden schleichen dahin, Artillerie bollert, mal ferner, mal nah. »Gehen Sie nicht mehr in Ihren vierten Stock«, ermahnt mich die Apothekerswitwe. Und sie bietet mir ein Nachtlager in ihrer Wohnung in der ersten Etage an. Wir klimmen aufwärts auf der hinteren Wendeltreppe. (Früher mal »Aufgang für Dienstboten und Lieferanten«.) Die Treppe ist eine enge Spindel. Es knirscht von Glassplittern unter meinen Füßen, es pfeift durch die offenen Luken. Eine Couch nimmt mich auf, vorn in der Kammer gleich neben der Küche, gönnt mir zwei Stunden Schlaf unter einer fremd riechenden Wolldecke. Bis gegen Mitternacht Bomben nahebei fielen und wir wieder kellerwärts flüchteten. Elend lange Nacht-stunden, bin zu müde, um jetzt hier unten weiterzuschreiben...
Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Dachwohnung. Bis gegen 4 Uhr hatten wir im Keller ausgeharrt. Allein klomm ich aufwärts unters Dach, wärmte mir eine Rübensuppe auf dem müden Gas, schälte Kartoffeln, kochte mein letztes Ei, d.h., ich aß es fast flüssig, und sprengte mir dann den letzten Rest Kölnisch Wasser auf den Leib. Komisch, wie viele Dinge man jetzt zum letztenmal tut, das heißt zum letztenmal bis auf weiteres, auf unbegrenzte, sicherlich lange Zeit. Woher sollte mir ein neues Ei kommen? Woher Parfüm? Also führe ich mir diese Genüsse sehr bewußt, sehr andächtig zu Gemüte. Nachher kroch ich angezogen ins Bett, schlief auf Stottern bei unruhigen Träumen. Nun muß ich los, einkaufen...
Wieder unterm Dach, 14 Uhr. Draußen Regengepladder, und keine Zeitung mehr. Trotzdem drängte sich das Volk pünktlich zu den aufgerufenen Zuteilungen, zu denen irgendwelche Zettel oder Extrablätter aufgefordert haben sollen. Wir haben jetzt eine Art Mundpost. Alles spricht sich herum.
Wir bekommen Vorschüsse, wie es offiziell heißt, und zwar auf Fleisch, Wurst, Nährmittel, Zucker, Konserven und Kaffee-Ersatz. Ich faßte an einem Schlangenschwanz Posten, stand zwei Stunden im Regen und bekam schließlich 250 Gramm Grütze, 250 Gramm Haferflocken, 2 Pfund Zucker, 100 Gramm Kaffee-Ersatz und eine Büchse Kohlrabi. Noch fehlen Fleisch und Wurst und Bohnenkaffee. Beim Fleischer am Eckhaus Gewimmel, nach beiden Seiten endlose Schlange in Vierer-reihen, unter Güssen von Regen. Nee! In meiner Schlange knisterte es von Parolen: Köpenick sei bereits von den Unsrigen aufgegeben, Wünsdorf besetzt, die Russen stünden am Teltowkanal. »Davon« sprach übrigens wie auf Verabre-dung plötzlich keine einzige Frau mehr.
Ich fühle mich nach solchen Schlangengesprächen, bei denen man unwillkürlich in Form und Inhalt seiner Rede hinabsteigt und sich in Massengefühlen badet, immer klebrig und zuwider. Und doch will ich keine Zäune dagegen setzen, will mich dem Massenmenschlichen hingeben, will es miterleben, will dran teilhaben. Zwiespalt zwischen der hochmütigen Vereinzelung, in der mein Privatleben für gewöhnlich abläuft, und dem Trieb, wie die anderen zu sein, zum Volk zu gehören, Geschichte zu erleiden.