»Und jetzt?« fragt Leise die andere zurück.
»Pah, man lebt eben. Das Schöne ist ohnehin vorbei. Ich bin nur froh, daß mein Mann dies nicht mehr erlebt hat.«
Wieder einmal muß ich darüber nachsinnen, was es bedeutet, in Furcht und Elend allein dazustehen. Es erscheint mir leichter, da die Qual des Mitleidens fehlt. Was mag die Mutter eines zerstörten Mädchens empfinden? Was jeder wirklich Liebende, der nicht helfen kann oder nicht zu helfen wagt? Die lang-jährigen Ehemänner halten es anscheinend noch am besten aus. Man schaut nicht dahinter. Ihre Rechnung kriegen auch sie eines Tages von den Frauen präsentiert. Schlimm muß es für Eltern sein. Ich verstehe so gut, daß ganze Familien sich im Tode zusammenkrallen.
Drinnen bei der Registrierung ging alles im Handumdrehen. Jeder mußte sagen, welche Fremdsprachen er spricht. Als ich mein bißchen Russisch gestand, bekam ich einen Zettel in die Hand gedrückt, der mich verpflichtet, mich morgen früh bei der russischen Kommandantur zu Dolmetscherdiensten zu melden.
Den Abend über präparierte ich russische Vokabeln, empfand das Kümmerliche meiner Sprachbrocken. Ein Besuch treppab bei der Hamburgerin machte den Tagesschluß. Stinchen, die achtzehnjährige Studentin, ist endlich vom Hängeboden herab- gestiegen. Die Risse von den Trümmerbrocken auf ihrer Stirn sind ausgeheilt. Sie gab sich ganz als wohlerzogenes höheres Töchterlein, trug die Kanne mit echtem Tee aus der Küche herzu und horchte auf unser Gespräch. Es scheint, daß unser junges Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, auch heil durchgerutscht ist. Ich erwähnte, daß ich gestern abend im Treppenhaus dieses Mädel gesehen hätte, wie es gerade einen Zank mit einem anderen Mädel durchfocht. Eine bronzebraune Person in weißem Pullover, recht hübsch, aber ordinär und hemmungslos in ihren Schimpfworten. Hier am Teetisch erfuhr ich nun, daß Eifersucht im Spiele war: Die Braune hat sich mehrfach und nachher mit einer gewissen Freiwilligkeit mit einem russischen Offizier eingelassen, hat mit ihm getrunken und Essen angenommen. Das geht der jungen Freundin an den Nerv, sie gehört zu den altruistischen Liebenden, hat im Verlauf der letzten Jahre ohne Ende für die Braune geschenkt und geschleppt. Das alles wurde ruhig und beiläufig beim Bürgertee abgehandelt. Es fiel kein Urteil, keine Wertung. Wir tuscheln nicht mehr. Wir zögern nicht mehr vor gewissen Worten und Dingen. Wir nehmen sie in den Mund, achselzuckend und wie vom Sirius her.
Mittwoch, 16. Mai 1945
Um sieben Uhr Moskauer Zeit stand ich auf. In den leeren Straßen Morgenstille. Noch sind die Läden leer und die neuen Karten nicht ausgeteilt. Am Gittertor der Kommandantur stand ein uniformiertes Mädchen und wollte mir den Eintritt verwehren; doch ich bestand auf meinem Schein.
Schließlich saß ich drinnen im Büro, beim Kommandanten, der zur Zeit Herr über mindestens hunderttausend Seelen ist. Ein schmales Kerlchen, blitzblank, hellblond, spricht auffallend leise. Er kann bloß Russisch, hat aber eine Dolmetscherin zur Seite, die Deutsch und Russisch nur so rasselt, beides akzentfrei. Ein bebrilltes Mädchen in kariertem Kleid, keine Soldatin. Windgeschwind übersetzt sie, was gerade eine spitznasige Kaffeehaus-Inhaberin äußert. Sie will ihren Laden wieder aufmachen? Großartig, das soll sie. Was braucht sie dazu? Mehl, Zucker, Fett, Wurst. Hm, hm. Was hat sie denn noch? Malzkaffee? Gut, so soll sie den ausschenken und, wenn möglich, Musik dazu bieten, vielleicht einen Plattenspieler aufstellen, denn es kommt darauf an, daß sich das Leben recht bald wieder normalisiert. Strom soll sie morgen mit ihrer ganzen Straße wieder bekommen, verspricht der Kommandant. Aus dem Nebenraum tritt, von der Dolmetscherin gerufen, ein Mann, wohl Elektroingenieur, der anhand von Blaupausen nun dem Kommandanten zeigt, wie es mit der Stromversorgung seines Bezirks steht. Ich reckte den Hals; unser Block war aber nicht mit drauf.
Es folgten etliche Bittsteller: Ein Mann im blauen Monteurkittel fragt, ob er ein Pferd, das lahm und blutig drüben im Park liegt, heimholen und gesund pflegen darf. Bitte sehr - wenn er sich auf Pferde versteht. Heimlich wundere ich mich, daß dieses Pferd noch nicht in paßgerechte Stücke für den Kochtopf zerteilt worden ist. Oder ist die Zeit wilden Schlachtens vorüber? Erstaunlich, wie ein jeder plötzlich bemüht ist, für sein Tun eine Erlaubnis einzuholen, sich den Rücken zu decken. Das Wort »Kommandant« ist in diesen Tagen ein Schlüssel-wort.
Ein Betriebsführer mit zwei Stenotypistinnen meldet seinen Kleinbetrieb an, eine Werkstatt für Ofenrohre, die aber mangels Material derzeit stilliegt. »Budit«, sagt der Kommandant. »Budit«, die russische Zauberformel, von der Dolmetscherin tröstend übersetzt mit: »Wird schon wieder werden.« Ja, »budit« kann auch ich übersetzen, ebenso die zweite Zauberformel »sawtra«, was »morgen« heißt.
Es folgen zwei Herren, die offenbar Direktoren einer Schokoladenfabrik sind. Sie haben ihren eigenen Dolmetscher mitgebracht, etwa von meiner Güte, wohl jemand, der als Arbeiter oder Soldat etliche Zeit in Rußland war. Zwar ist es noch nichts mit Schokolade; dafür wollen die Männer Roggenmehl aus einem Vorort-Lager holen, wollen Nudeln daraus fabrizieren. Sollen sie! Einen Lastwagen verspricht ihnen der Kommandant für »sawtra«.
Sachliche Luft, gar keine Stempel, wenig Papier. Der Kommandant arbeitet mit kleinen Kritzelzetteln. Ich war ganz Auge und Ohr, sah die Obrigkeit funktionieren, fand's spannend und erfreulich.
Schließlich war die Reihe an mir. Ich legte dreist los, gestand, was der Kommandant ohnehin hörte: daß ich so vielfältigen Übersetzungsanforderungen sprachlich nicht gewachsen sei. Freundlich erkundigte er sich, woher mein Russisch stammt, welche Art von Arbeit ich gelernt hätte. Meinte dann, in absehbarer Zeit würden gewiß wieder Leute verlangt, die mit Kamera und Zeichenstift umgehen könnten - ich solle es abwarten. Ich bin's zufrieden.
Derweil waren zwei Russen eingetreten, beide blank gestiefelt, reich dekoriert, in frisch geplätteten Uniformen. Das Gewaschen- und Gestriegeltsein ist bei ihnen ein Stück »Kultura«, ein Zeichen höheren Menschentums. Ich entsinne mich noch der Plakate, die damals in allen Moskauer Ämtern und Straßenbahnwagen hingen, mit dem Slogan: »Wasche dir täglich Gesicht und Hände, mindestens einmal im Monat das Haar.« Dazu kleine, niedliche Bilderchen mit viel Gepruste und Waschnapfgeschwenke. Auch das Stiefelputzen gehört zu dieser Kultura und Reinlichkeitsreligion. Drum wundert es mich nicht, wie betont blank sie daherkommen, sobald sie können.
Die beiden Männer unterhalten sich halblaut mit dem Kommandanten. Schließlich wendet sich dieser an mich und fragt mich, ob ich wohl den Oberleutnant Soundso (Tsch-tsch-tsch..., zwar diesmal deutlich, doch vergaß ich es gleich wieder) auf einigen Wegen dolmetschend begleiten könne - er sei beauftragt, die Banken des Bezirks zu inspizieren. Mir ist das recht. Ich bin froh über jedes Tun, das nicht aus Wasserholen und Holzsuchen besteht.
Neben dem dunklen, gutaussehenden Offizier trabe ich durch die Berliner Straßen. Langsam und in deutlichster Aussprache, so wie man mit sprachschwachen Ausländern redet, erklärt er mir, daß wir zuerst den deutschen Bürgermeister aufsuchen und von ihm eine Liste der Bankfilialen erbitten würden.
»Burgemestr«, so heißt nun dieser Bürgermeister auf russisch. Im Rathaus Volksgewimmel, Gerenne durch die düsteren Gänge. Männer spritzen von Zimmer zu Zimmer; ständig klappern die Türen. Irgendwo tackt eine Schreib-maschine. An einigen Pfeilern, die etwas Licht haben, kleben gleichlautende handgeschriebene Zetteclass="underline" Danach wird eine Frau, die am 27. April den Verstand verlor und davonlief, von ihren Angehörigen gesucht. »Die Betreffende ist dreiundvierzig Jahre alt, hat schadhafte Zähne, schwarzes gefärbtes Haar und trägt Hausschuhe.«