Wir saßen eine ganze Weile auf dem Mäuerchen, schwatzten und ruhten aus. Nun will der Oberleutnant wissen, wo ich wohne, wie ich lebe. Er möchte mich besser kennenlernen, wobei er sich gleich gegen jeden falschen Verdacht verwahrt: »Pas ça, vous comprenez?« - So sagt er und schaut mich mit nebligen Augen an. Oh ja, ich verstehe.
Wir verabreden uns für den Abend. Er wird auf der Straße nach mir rufen. Ich werde um die abgemachte Zeit am Fenster horchen. Er heißt Nikolai. Seine Mutter nennt ihn Kolja. Nach seiner Frau frage ich nicht. Sicherlich hat er Weib und Kinder. Was geht es mich an? Zum Abschied sagt er: »Au revoir.«
Ich heim und der Witwe alles brühwarm berichtet. Sie ist entzückt. »Du, den halte dir. Endlich mal ein gebildeter Mensch aus gutem Haus, mit dem man sich unterhalten kann.« (Auch Pauli und die Witwe können etwas Französisch.) Dazu sieht die Witwe im Geiste bereits wieder die Produkte anrollen, ist überzeugt, daß Nikolai Zugang zu Lebensmitteln hat, etwas für mich - und damit für uns alle drei - tun wird. Ich weiß nicht recht. Einerseits kann ich nicht bestreiten, daß er sympathisch ist. Er ist der westlichste unter all den Russen, die ich bisher als Sieger traf. Andererseits hab ich keine Lust auf einen neuen Mann, berausche mich immer noch am Alleinsein zwischen sauberen Laken. Überdies will ich endlich aus dem ersten Stock und von der Witwe weg; vor allem von Herrn Pauli, der mir jede Kartoffel mißgönnt. Ich möchte wieder hinaufziehen in die Dachwohnung, sie säubern, bewohnbar machen. Was soll ich also noch für die paar Tage dem trägen Pauli Essen anschlafen? (Auch so ein neues Wort von uns. Wir haben mit der Zeit einen seltsamen Jargon entwickelt, reden von Majorszucker und Schändungsschuhen, von Plünderwein und Klaukohle.)
Weiter, am späten Abend. Gegen 20 Uhr lauerte ich am Fenster, wie abgesprochen, doch kein Nikolai kam. Herr Pauli verulkte mich mit meiner ungetreuen Eroberung. Die Witwe, noch hoffnungsvoll, behielt immerfort den Wecker im Auge. Da,
18 4 -------4 als es schon dämmerte, draußen der Ruf: »C'est moi!« Ich öffnete, nun doch ganz aufgeregt, führte ihn hinauf in unsere Wohnung. Er kam jedoch nur für eine Viertelstunde, und nur, um zu sagen, daß er nicht kommen, nicht bleiben könne. Die Witwe und Herrn Pauli begrüßte er in feierlichem Französisch und verabschiedete sich gleich wieder mit seinem »Au revoir«. Im Flur sagte er auf russisch, wobei er mir die Hände drückte: »Bis Sonntag abend um acht.« Und, wieder auf französisch: »Vous permettez?« Was wir schon zu erlauben haben? Aber vielleicht weht nun wirklich ein anderer Wind. Auf Inflation oder neues Geld tippt Nikolai übrigens nicht, ich hab ihn heute morgen danach gefragt. Er meint, unser bisheriges Geld werde vorläufig im Umlauf bleiben, doch werde das Bankwesen stark vereinfacht. Ich: »Aha, wohl sozialisiert?« Darauf er: »Nein, doch nicht, es sind ganz andere Verhältnisse.« Und er sprach von etwas anderem.
Donnerstag, 17. Mai 1945
Früh auf, Wasser geholt am neuen Hydranten. In einem Ladenfenster hängt eine Zeitung, nennt sich Tägliche Rundschau, ein Blatt der Roten Armee für die »Berliner Bevölkerung«. Jetzt sind wir kein Volk mehr, wir sind nur noch Bevölkerung, sind wohl noch vorhanden, stellen aber nichts mehr dar. Auch in anderen Sprachen dieser Wertunterschied: peuple und population, people - population. Bitteres Gefühl, als ich von den Siegesfeiern in Moskau, Belgrad und Warschau las. Graf Schwerin-Krosigk soll zu den Deutschen gesprochen und sie ermahnt haben, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Wir Frauen tun das schon lange. Aber was, wenn nun die Ritterkreuzträger und Generäle und Gauleiter das gleiche tun sollen? Ich möchte wohl wissen, wie hoch die Zahl der deutschen Selbstmorde in diesen Tagen ist.
Herr Pauli legt neuerdings Optimismus an den Tag. Er redet von schnellem Wirtschaftsaufschwung, von der Einschaltung Deutschlands in den Welthandel, von wahrer Demokratie und einer Kur in Bad Oeynhausen, die er sich als nächstes gönnen will. Als ich, ausgerüstet mit Nikolais Weisheit, Wasser in seinen Wein goß, wurde er richtig wütend und verbat sich mein Dreinreden in Sachen, von denen ich keine Ahnung hätte. Ich spürte, daß sein Zorn über den dummen Anlaß hinausging, daß er mich einfach dick hat. Früher war die Witwe für ihn allein da, umsorgte ihn früh und spät. Ich störe.
Nach dem Essen - es gab Erbsensuppe, und ich futterte auf Vorrat - wurde Pauli wieder friedlich. Die Witwe nötigte mich sogar, nochmals zuzulangen. Ich spüre, wie mein Börsenwert in diesem Hauswesen wieder steigt. Die Hausse hat Nikolai bewirkt. Soll ich mich darüber aufregen, soll ich den mora-lischen Maßstab an meine Wohnungsgenossen legen? Ich tu's nicht. Homo homini lupus - das stimmt immer und überall. Sogar zwischen Blutsverwandten wird es in diesen Zeiten stimmen. Allenfalls kann ich mir vorstellen, daß Mütter sich hungernd bemühen, ihre Kinder zu sättigen - wohl weil sie die Kinder als eigenes Fleisch empfinden. Aber wie viele Mütter hat man in den letzten Jahren verknackt, weil sie die Milchrnarken ihrer Kinder verkauft oder sie gegen Zigaretten eingetauscht hatten. Das Wölfische im hungernden Menschen überwiegt. Ich warte auf den Augenblick, wo ich zum ersten Mal im Leben einem Schwächeren sein Stück Brot aus der Hand reißen werde. Manchmal glaub ich, dieser Augenblick kommt nie. Ich könnte mir vorstellen, daß ich so nach und nach matt werde, zusammensacke, wegdämmere und gar nicht mehr die Kraft zu Raub und Plünderung habe. Seltsames Gespinn bei vollem Bauch und einem neuen russischen Versorger im Hintergrund!
Im Treppenhaus eine Neuigkeit: Man hat in unserem Hause ein ehemaliges Parteitier aufgestöbert, einen Reichsamtsleiter oder sowas Ähnliches, ich kenne die Nazigrade schlecht. Im Keller hab ich ihn öfters gesehen, erinnere mich noch an die eingewiesene Blonde, die keiner recht kannte und die mit ihrem dito unbekannten Untermieter ständig Hand in Hand dasaß - zwei Turteltauben. Der Täuberich also war das hohe Tier. Dabei sah er nach gar nichts aus, saß in schäbigem Zeug herum, redete wenig und blöde. Das nennt man gut getarnt.
Ich möchte nur wissen, wie es herausgekommen ist. Die Geliebte hat ihn nicht denunziert. Sie sitzt nun, wie die Buchhändlerin berichtete, jämmerlich heulend in der Wohnung im dritten Stock, in der sie, bis auf zwei Iwans in der ersten Nacht, nichts weiter abbekam. Sie traut sich kaum mehr heraus, befürchtet, gleichfalls abgeholt zu werden. Den Mann haben sie in einem Militärauto fortgebracht.