Am Nachmittag feierten wir Hausputz. Auftakt war ein Ruf der Witwe: »Nun sieh dir das an!« Wahrhaftig, aus dem Hahn tropfte es, richtige dicke Wassertropfen aus unserer so lange trockenen Leitung. Wir drehten auf, so weit wir konnten; ein starker Strahl schoß heraus, erst braun, doch bald hell und klar. Vorbei die Wassernöte, die endlose Eimerschlepperei! Wenigstens für uns im ersten Stock; denn später hörten wir, daß der Wassersegen im dritten Stock endet. Doch holen sich die Höherwohnenden ihr Wasser jetzt unten in unserem Hof - oder bei Bekannten eine Treppe tiefer. Wozu noch zu sagen ist, daß die berühmte Volks- und Haus- und Luftschutzge- meinschaft langsam zerbröckelt. Auf gut großstädtische Manier schließt sich wieder jeder in seine vier Wände ein und wählt seinen Umgang mit Vorsicht.
Wir stellten die Wohnung auf den Kopf und veranstalteten einen tollen Hausputz. Ich konnte mich gar nicht satt sehen an dem Wasser, fummelte immer wieder am Hahn herum. Zwar versiegte der Sprudel gegen Abend; doch da hatten wir schon die Badewanne bis zum Rand gefüllt.
Sonderbares Gefühl, jetzt eins nach dem anderen die »Wunder der Technik«, die Errungenschaften der Neuzeit wieder beschert zu bekommen. Jetzt freue ich mich schon auf den elektrischen Strom.
Zwischendurch, als alles bei uns schwamm, fand sich die Blonde, Eingewiesene ein, deren Geliebten die Russen vor-gestern als hohes Parteitier abgeholt haben. Ich mußte mir eine Magazin-Story von Liebe und Treue anhören: »So etwas wie unsere Liebe, hat er zu mir gesagt, das hat er noch nie erlebt. Das muß die ganz große Liebe sein, hat er gesagt.« Vielleicht redet die ganz große Liebe wirklich so. Mir jedenfalls waren diese Sätze greulich, wie allerbilligster Kintopp und Groschen-roman. Sie barmte herum, während ich den Flur schrubbte: »Wo mag er jetzt bloß sein? Was mögen die mit ihm machen?« Ich weiß es auch nicht. Sie verweilte übrigens nicht lange dabei, kam rasch auf sich selbst zu sprechen: »Ob sie mich wohl auch noch holen? Ob ich besser von hier abhauen soll? Aber wohin?«
»Unsinn! Es war doch nirgends angeschlagen, daß Parteigenossen sich melden müßten.« Und ich fragte: »Wer hat es denn ausgeschwatzt?«
Sie zuckte die Achseln: »Ich nehme an, seine Frau. Die war mit den Kindern nach Schwiebus evakuiert, ist sicher mittler-weile nach Berlin in das Haus zurückgekehrt, das sie in Treptow haben. Da wird sie wohl von irgendwelchen Nachbarn gehört haben, daß er öfters mit mir draußen gewesen ist, Sachen holen.«
»Kannten Sie denn die Frau?« »Ein bißchen. Ich war doch früher mal seine Sekretärin.«
Das übliche »Ausweichlager« also, wie der Berliner Witz die Bettzuflucht der Ehemänner nannte, die auf höheren Befehl - und oft nicht ungern - Weib und Kind evakuieren mußten. Auch über die evakuierten, gattenlosen »Mu-Ki's«, die Mutter-und-Kind-Verschickten, wurden allerlei Histörchen über Fensterln und flotten Lebenswandel erzählt. Man verpflanzt den Durch-schnittsmenschen in seiner moralischen Schwäche nicht ungestraft. Die gewohnte Umwelt von Sippe, Nachbarschaft, polierten Möbeln und stundenfüllender Tätigkeit ist ein starkes Moralkorsett. Es kommt mir ganz wahrscheinlich vor, daß die erzürnte Ehefrau ihren Mann preisgegeben hat - vielleicht, weil sie annahm, daß die Gefährtin seines Ausweichlagers mit bestraft würde.
»Ach, er war so entzückend«, versicherte sie mir, als ich sie endlich zur Tür hingelotst hatte. Und sie tupfte sich eine Träne weg.
(Juli 45 an den Rand gekritzelt: War die erste Frau im Haus, die einen Ami hatte: Koch, Bauch, Specknacken, schleppt Pakete an.)
Pfingstsonntag, 20.Mai 1945
Strahlender Tag. Von frühmorgens an widerhallte unsere Straße von den Tritten ungezählter Marschierer, die unterwegs sind zu Freunden und Verwandten in anderen Stadtteilen. Wir frühstückten bis elf mit Kuchen und bohnengemixtem Kaffee. Die Witwe gab allerlei Familien-Anekdoten zum besten. Das ist ihre Stärke. Ihre Sippe ist aber auch wirklich komisch, da völlig unübersichtlich: Der Schwiegerpapa war dreimal verheiratet, in großen Abständen; hat zwei seiner Frauen überlebt. Aus allen Ehen laufen nun Kinder und Kindeskinder herum; Tanten, die jünger sind als ihre Nichten; Onkel, die mit ihren Neffen in die gleiche Schulklasse gehen. Obendrein, so gesteht die Witwe, hat sich die letzte, überlebende Gattin anschließend in zweiter Ehe mit einem Juden vermählt. Dieser jüdische Stief-Schwiegervater starb zwar bereits lange vor Beginn des Dritten Reiches; doch blieb er ein Fleck in der Familiengeschichte. Heute hingegen erzählt die Witwe geradezu mit Behagen von ihm und rühmt sich seiner.
Nach dem Mittagessen verzog ich mich hinauf in die Dachwohnung, wühlte mich durch Berge von Kalk und Schutt, schleppte Dreckeimer treppab, wischte die Böden. In die morschen Balkonkästen pflanzte ich Kerbel und Borretsch; das heißt, ich streute in flache Rillen die braunen Körner und schwarzen Würmchen, aus denen mein Küchengarten wachsen soll. Wie die Kräuter aussehen werden, weiß ich nur von den Vorderseiten der Samentüten, die mir die Hamburgerin aus altem Restbestand geschenkt hat. Nachher lag ich am Boden der Terrasse in der Sonne. Tiefzufriedene Stunde. Doch hinterdrein Unruhe. Es mahnt und bohrt in mir. Ich kann nicht so pflanzenhaft weiterleben, muß mich rühren, muß etwas anfassen. Mir ist, als ob ich ein gutes Spiel Karten in Händen hätte. Ob ich es ausspielen kann? Mit wem? Das Schlimmste zur Zeit ist unser Abgeschnittensein.
Als ich in den ersten Stock zur Witwe zurückkehrte, platzte ich in großen Jubel. Unversehens und ohne zu suchen, ist die Witwe auf die verkramte Krawattenperle ihres Seligen gestoßen; sie hatte das gute Stück in der Zehenspitze einer vielgestopften Socke versteckt. »Wie man sowas bloß vergessen kann!« wundert sie sich nachträglich.
Friedlich ging der Pfingstsonntag vorüber. Ab acht Uhr abends wartete ich auf den Oberleutnant - auf Nikolai, der mich Mittwoch gefragt hat, ob er heute kommen dürfe. Er kam nicht, wird wohl auch nicht mehr kommen. Herr Pauli konnte sich eine entsprechende Bemerkung nicht verkneifen.
Montag, 21. Mai 1945 Von einem feiertäglichen Pfingstmontag war nichts zu spüren. Noch arbeitet ja kaum ein Mensch beruflich. Berlin hat Ferien. Ich suchte Holz und stieß auf einen Anschlag, daß sich alle »Kulturschaffenden« heute um elf Uhr im Rathaus melden sollten: Künstler, Presseleute, Verlagsleute. Das Arbeitsbuch sowie Proben der ausgeübten Kunst sollten mitgebracht werden.
Ich - hin. Schlange im zweiten Stock. Da, das sind sie, unverkennbar. Durchgeformte Köpfe, eigenwillige Kleidung, Theatermädel neben ältlichen Malerinnen, die sich mit ölduftenden Gemälden abschleppen. Dort die männliche Frau, drüben der weibliche junge Mann mit langwimprigem Blick, wohl Tänzer. Ich stehe so mittendrin und lausche den Reden von links und rechts, z. B. über den angeblich aufgehängten berühmten Kollegen Soundso, bis schrill eine Frauenstimme berichtigt: »Aber nein, im Gegenteil! Erst jetzt ist doch rausge-kommen, daß er ein Halbjude war.« Vielleicht stimmt das sogar. Überall werden jetzt die bisher so ängstlich versteckten »Nichtarier« in den Ahnentafeln dick unterstrichen und auf neu poliert.
Die Registrierung war bloß Formsache. Eine ältere Frau mit jüdischem Gesichtsschnitt notierte die Personalien in eine dicke Kladde, gab jedem einen Registrierschein, und fertig. Ob von hier etwas zu erwarten ist, ein Fingerzeig, eine Hilfe? Wohl kaum.
Zum Mittagsmahl öffnete die Witwe eines ihrer seit 1942 ängstlich gehüteten Vorratsgläser mit eingemachtem Huhn. Ja, Huhn, aber Huhn mit Mottenpillengeschmack. Das Glas hat jahrelang zwischen eingemotteten Brücken im Keller gestan-den, war durch und durch vom Naphtalindunst durchzogen. Darob großes Gelächter. Selbst der gefräßige Herr Pauli verzichtete. Die Witwe würgte einige Brocken hinunter und überließ mir den Rest. Ich erfand eine Methode, die Bissen bei zugehaltener Nase herunterzuschlucken. Allerdings stieß ich noch Stunden nachher mottenkugelig auf.