Müde Füße, schwüler Tag. Nun bringt der Abend Ruhe und Regen.
Dienstag, 22. Mai 1945
Früh um 6 kroch die Witwe schon in der Wohnung herum. Am Vorabend hatte sie durch unseren Hausobmann einen Zettel erhalten. (Hausobmann - auch so eine neue Erfindung! Bei uns spielt der Mann von der Hamburgerin diese Rolle.) Der Befehl, ein vervielfältigter Schnipsel, besagt, daß die Witwe sich um 8 Uhr vor dem Rathaus anzufinden habe, zur Arbeit. Nichts weiter. »Wäre fein, wenn's zum Spargelstechen wäre«, meinte sie und malte uns bereits die köstlichsten Spargelmähler aus. Also habe ich heute die Hausfrau gespielt, kochte für Herrn Pauli und mich eine Erbsmehlsuppe. Gegen 14 Uhr lautes Rufen auf der Straße vor unserem Haus: ein von Amts wegen bestellter Ausrufer wie vor tausend Jahren.
Er hatte sich unter dem Ahorn aufgebaut und leierte von einem Blatt Papier herunter, daß alle arbeitsfähigen und noch nicht arbeitstätigen Männer und Frauen zwischen fünfzehn und fünfundfünfzig Jahren sich sofort zwecks Arbeitseinsatz vor dem Rathaus einzufinden hätten.
Große Diskussion im Treppenhaus: Sollen wir hingehen oder nicht? Die Buchhändlerin war dafür, da sie befürchtete, wir könnten sonst zwangsweise geholt werden. Ich schloß mich ihr an. Zusammen wanderten wir los. Ich fragte sie, ob sie schon wüßte, was mit ihrer Buchhandlung los sei. »Ende April abgebrannt«, war die knappe Antwort. Trotzdem sieht die Buchhändlerin optimistisch in die Zukunft. Im Keller, so sagt sie, hat sie eine Riesenkiste voller Bücher durchs Dritte Reich gerettet - meist »verbotene« Literatur. Das heißt, was man bei uns seit 1933 verboten hat: erst die Bücher von Juden und Emigranten, später die Bücher unserer Kriegsgegner. »Danach giepern doch jetzt die Leute«, meint die Buchhändlerin. »Wir werden in unserem Geschäft eine Ecke aufmauern und darin eine Leihbücherei einrichten, mit hohem Pfandgeld natürlich, sonst sind unsere Bücher gleich futsch.« Ich habe mich als erste Leserin angemeldet, habe allerlei nachzuholen.
Vor der Rathaustreppe drängelten sich schon viele Frauen. Männer hingegen sah man nur vereinzelt. Ein Jüngling verarbeitete mit viel Geschrei und Gefuchtel unsere Namen zu einer Liste. Die Straße vor dem Rathaus bot das Bild einer wildbelebten Baustelle. Der Graben in der Mitte des Fahr-damms, der zu geheimnisvollen Kriegszwecken seinerzeit von etlichen Deutschen und vielen in Wattejacken gehüllten Russenmädchen ausgehoben worden ist, wird nun von den Unsrigen zugeschüttet - ein Vorgang, dessen Logik mir einleuchtet. Mit Sand, Ziegeltrümmern und schwarzem Brandschutt wird der Graben ausgefüllt. Frauen schieben Loren, sie rollen die Füllmasse an den Grabenrand, kippen sie hinein. Aus allen Nebenstraßen ziehen sich die Händeketten und reichen Eimer auf Eimer zu den Loren hin. Morgen früh um acht soll auch ich zu dieser Arbeit antreten. Ich habe nichts dagegen.
Vergeblich spähte ich unter den arbeitenden Frauen nach der Witwe aus. Einmal fuhr ein Lautsprecherwagen vor, mit gebrüllten Nachrichten in russisch gefärbtem Deutsch. Nichts Neues für mich dabei.
Zum Abend gab es Brote mit Büchsenfleisch. Immer noch fehlte die Witwe. Es war schon 21 Uhr, als endlich ihr roter Hut unten auftauchte. Sie war ausgepumpt, fertig, erschossen, stieß bloß kurze, unverständliche Wutlaute aus und wollte uns nicht Rede stehen. Erst nach endloser Körperwäsche ließ sie sich zu ein paar Sätzen herbei: Danach war es nichts mit dem Spargelstechen. Ein russischer Lastwagen hat die Frauen zu einer Maschinenfabrik gefahren, wo die Witwe zusammen mit etwa zweihundert anderen Frauen den ganzen Tag unter russischem Triezkommando Sachen in Kisten gepackt, sie wieder ausgepackt, umgepackt, neu verpackt hat; ständig gestupst und gestoßen und zu Mittag mit einem Kanten trocken Brot abgespeist.
»Wenn das Organisation sein soll«, so empörte sich die Witwe uns gegenüber. »Dieses Kuddelmuddel, dieses Durcheinander!«
Und sie erzählte: »Wir haben gleich gesagt, daß die Eisenteile zu schwer für die Kisten seien, daß die Kistenböden herausbrechen würden. Da haben sie uns angebrüllt: ›Halt den Mund!‹ und ›Rabotta, rabotta!‹ Und wie dann richtig beim Anheben gleich die erste Kiste in Stücke brach, da ging das Gebrüll erst recht los, und natürlich waren wir schuld!« Die Witwe schüttelt sich: »Es ist mir schleierhaft, wie diese Menschen den Krieg gewinnen konnten. Die haben doch weniger Verstand als ein deutsches Schulkind.« Und so fort, sie zählt weitere verfehlte Maßnahmen und Verbohrtheiten der Russen auf und kann sich gar nicht beruhigen. Sie mußte die anderthalb Stunden Heimweg zu Fuß laufen, kein Lastwagen fuhr nach vollbrachter Arbeit die Frauen heim. Eine Blase am Zeh der Witwe ist die Folge; sie jammert darüber, klagt über unser aller Los und über die deutsche Niederlage. Nichts kann sie trösten, nicht mal der Hammer oder die Zange, der Staublappen oder die Blechtasse - Sachen, welche die Witwe unter ihrem Kleid aus der Fabrik hinausgeschmuggelt hat.
Mittwoch, 23. Mai 1945
Mit Eimer und Müllschippe ausgerüstet, marschierte ich in grauer Regenfrühe zum Rathaus. Schon unterwegs goß es wie aus Kübeln. Ich spürte ordentlich, wie mein Strickkleid Wasser zog. Es regnete immerzu, mal feiner, mal stärker. Trotzdem schippten wir und füllten Eimer auf Eimer mit Dreck, damit die Händekette nicht abriß. Wir waren an die hundert Frauen aller Sorten. Die einen zeigten sich träge und lustlos und rührten sich nur, wenn einer unserer beiden deutschen Aufseher hinsah. (Immer kriegen die Männer die Aufseherposten.) Andere Frauen schufteten mit Hausfraueneifer, ja verbissen. »Getan muß die Arbeit doch werden«, sagte eine tief überzeugt. Zu viert schoben wir die vollen Loren an den Graben heran. Ich lernte eine Drehscheibe bedienen. Bis wilde Regengüsse uns zu einer Pause zwangen.
Dicht gedrängt wie die Tiere standen wir unter einem Balkon. Die nassen Sachen klebten uns am Leib; die Frauen schauderten und zitterten. Wir nutzten die Gelegenheit und aßen unser nasses Brot ohne was drauf. Eine Frau murmelte: »Bei Adolf ha' ick sowat nich jejessen.«
Von allen Seiten kam Widerspruch: »Sie, det schreiben Se man ooch noch Ihrem Adolf uff Rechnung.«
Darauf die Frau, ganz betreten: »So ha' ick det ja nich jemeint.«
Über eine Stunde standen wir so. Der Regen prasselte um uns hernieder. Als er sachter rieselte, holte unser Aufseher, ein wienerisch sprechender junger Mann mit tschechischem Namen, uns wieder an die Loren zurück. Die Lore, die ich bediente, trug die Aufschrift »Die lachende Lore«. Eine andere Lore war mit Kreide als »Die weinende Lore« gekennzeichnet. Doch hatte eine Hand das Wort »weinende« ausgestrichen und »schmunzelnde« darüber geschrieben.
Gegen 15 Uhr wurden wir endlich von unserem Wiener auf der Liste abgehakt und durften heimgehen. Übermütig schwenkte ich unterwegs meinen Dreckeimer, nach dem Motto: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«
Daheim fand ich die Witwe in großer Unruhe vor. Wie sie gestand, hatte sie in den letzten Tagen »ein Jucken und Brennen« verspürt und war deswegen übers Lexikon gegangen. Stichworte »Tripper« und »Syphilis«. Zwar hat sie als Apothekersfrau ganz gute Kenntnisse über die mensch-lichen Gebresten gesammelt; doch auf diesem Spezialgebiet fehlen ihr die nötigen Erfahrungen. »Ich habe Knötchen«, so behauptet sie steif und fest. Im Lexikon werden diese Knötchen als charakteristisch für eine beginnende Syphilis bezeichnet; drei bis vier Wochen nach der Ansteckung sollen sie fällig sein. Die Witwe rechnet sich aus, daß ihr Treppenschänder, der Kleine, Bartlose, sie vor genau vier Wochen gehabt hat.