Freilich ist das ein wunderlicher Tod. Vermutlich sollten sich die Kindlein, für die der Keller gebaut war, vor diesem Spiegel am Morgen nach den Bombennächten ihre Löckchen strählen. Gewiß hat man diesen Zierat ganz zu Beginn des Luftkrieges eingebaut, als wir den Luftschutz noch mit Komfort und Zuversicht betrieben.
Wir verwuschen den Nachmittag, rubbelten mit unseren runzligen und verquollenen Händen Blusen, Hosen und Mützen. Gegen 19 Uhr konnten wir uns heimlich durch ein Seitenpförtchen zur Straße weg verdrücken. Herrliches Gefühl von Freiheit, Feierabend und Schuleschwänzen.
Zu Hause haben wir, die Witwe, Herr Pauli und ich, den letzten Rest des Burgunders ausgetrunken, den ich seinerzeit aus der Schupokaserne geräubert habe. Morgen ist Sonntag, aber nicht für mich. Der Wiener hat uns eine Rede gehalten, des Inhalts, daß man uns, falls wir morgen nicht kämen, zwangsweise aus den Wohnungen holen werde, zur Weiter-arbeit in die Fabrik.
Sonntag, 27. Mai 1945
Langer, öder, müder Tag. Der längste Sonntag meines Lebens. Arbeit von 8 bis 20 Uhr, ununterbrochen auf dem grellbesonnten Gelände. Die Waschküche fiel heute aus. Unsere Russen haben Feiertag. Wir standen Kette über den Hof, die Sonne stach. Wir reichten Zinkbarren und scharf-kantigen Zinkbruch von Hand zu Hand. Die Kette, wohl hundert Meter lang, war dünngliedrig. Bis zur nächsten Frau mußte man immer zwei, drei Schritte mit dem schweren Zeug gehen. Bald hatte ich von der Prallsonne Kopfschmerzen. Dazu einen wehen Rücken und die Hände wund noch von den Waschtagen her. Ringsum blödes Getratsch, Streitereien. Schließlich eine Art Gesang. Endlos leierten die Frauen den Vers: »Scheint die liebe Sonne vom Himmel so heiß – sitzt der Bürgermeister am Bache und schei -- -- nt die liebe Sonne...« Und so fort, monoton. So verbissen sich die Frauen ihre Wut über den gestohlenen Sonntag.
Manchmal kramte eine Große, Knochige, aus irgendwelchen Wäschetiefen eine ins Taschentuch geschlungene Armbanduhr heraus und nannte uns die Zeit. Die Stunden schlichen. Zwischendurch gab es einen hastigen Schlag Grütze.
Weiter in der schattenlosen Glut. Zink, Zink, und das hörte nicht auf. Gegen 16 Uhr war der erste Waggon gefüllt. Er glitzerte silbrig. Alle zusammen schoben wir ihn mit »Hau-ruck!« ein Stück gleisaufwärts, rollten dann den nächsten Güterwagen heran. Ein französischer Wagen aus Bordeaux mit dem mir so wohlbekannten Zeichen SNCF. Es stank daraus. Menschen hatten ihn als Abtritt benutzt. Die Frauen lachten. Eine rief: »Die Scheiße fährt mit nach Moskau.«
Weiter, Zink ohne Ende. Schließlich wurde es sogar unseren beiden Aufsehern langweilig. Wir kennen die zwei Soldaten schon ganz gut. Bei uns heißen sie »Teddy« und »Schielewipp«. Heute waren sie nicht sehr streng, haben zweimal zwischendurch das schöne deutsche Wort »Pause!« gerufen. Dabei hat Schielewipp sogar mit einem von unseren Mädeln einen Tanz riskiert, wozu wir anderen den Takt geklatscht haben. Gegen 17 Uhr waren sie plötzlich verschwun-den. Feierabend für sie, leider nicht für uns. Mit einem Mal war es unheimlich still auf dem Grundstück. Kein Treiberruf, kein Geschwätz, kein Stöhnen, gar nichts mehr. Bloß das Schurren unserer Füße, und manchmal der dünne Ruf: »Achtung - !«, wenn eine der Frauen döste. Und dann natürlich immer wieder die Frage nach der Uhrzeit.
Aus dem Keller, wo auch den ganzen Tag Frauen standen, erging die Meldung, daß dort noch unabsehbare Massen von Zinkbarren lagerten. Gegen 19 Uhr kam das Gerücht auf, daß nun Feierabend sei - es stellte sich als Irrtum heraus. Weiter, Zink, Zink... Endlich, gegen 20 Uhr erschien ein Russe und winkte uns in die Kantine. Wir schlangen die fette Suppe herunter und trotteten heim. Ich war müde zum Umfallen, meine Hände waren dunkelgrau. Nachher auf dem Waschwasser schwammen dicke graue Flocken. Legte mich lang hin, ließ mich von der Witwe mit Tee und Kuchen verwöhnen.
Seit gestern haben wir wieder elektrischen Strom. Vorbei die Kerzenzeit, vorbei das Klopfen an der Tür, vorbei die Stille. Das Radio wird vom Berliner Sender beschickt. Es bringt meistens Nachrichten und Enthüllungen, Blutgeruch, Leichen und Grau-samkeit. In großen Lagern im Osten sollen Millionen Menschen verbrannt worden sein, meistens Juden. Aus ihrer Asche sollen die Kunstdünger hergestellt haben. Und was das Tollste ist: Alles das soll in dicken Büchern säuberlich notiert sein, eine Buchführung des Todes. Wir sind eben ein ordentliches Volk. Spätabends kam Beethoven, und damit kamen Tränen. Hab abgedreht. Man verträgt das jetzt nicht.
Montag, 28. Mai 1945
Wieder Waschküche. Heute waren unsere Iwans besonders aufgekratzt. Sie kniffen und knutschten uns und wiederholten ihr deutsches Sprüchlein: »Speck, Eier, schlafen zu Chause«, wobei sie der besseren Verständlichkeit halber ihren Kopf wie Raffaelsche Engelein auf den Unterarm legten.
Speck, Eier, wir könnten sie gebrauchen. Doch fand das köstliche Angebot, soweit ich sehen konnte, nirgends Ab-nehmer. Vergewaltigungen am hellen Tage auf dem weithin offenen Gelände, bei so viel Menschengewimmel, dürften unmöglich sein. Überall ist Betrieb, nirgends fänden die Burschen einen stillen Winkel. Daher das »Schlafen zu Chause« - sie möchten mit heim genommen werden von willigen, speckbedürftigen Mädchen. Bestimmt gibt es deren genug unter uns hier in der Fabrik, doch die Angst wirkt bremsend. Wieder wuschen wir Blusen, Hemden und Taschentücher. Eines erwies sich als Nachttischdeckchen - ein kleines, rotgesäumtes Rechteck mit der in Kreuzstich gestickten Aufschrift »Schlafe wohl«. Zum ersten Mal wusch ich vollgeschnodderte Schneuztücher fremder Menschen. Ekel vor dem feindlichen Rotz? Ja, mehr als vor den Unterhosen, ich hatte ein Würgen zu überwinden.
Meine Mitwäscherinnen empfanden offenbar nichts der-gleichen, sie wuschen verbissen. Nun kenne ich die beiden schon ganz gut. Die kleine Gerti, neunzehn, zart und nachdenklich, beichtete mit halber Stimme allerlei Liebes-malheur. Von einem Freund, der sie verließ, von einem anderen, der gefallen ist... Ich steuerte sie auf die letzten Apriltage hin. Schließlich gestand sie mit gesenkten Wimpern, daß drei Russen sie aus dem Keller geholt und - erst nacheinander, dann durcheinander - auf einem Sofa in einer fremden Parterrewohnung besessen hätten. Diese jungen Burschen erwiesen sich nach vollzogener Tat als Witzbolde. Sie durchwühlten den fremden Küchenschrank und fanden - typisch für die derzeitigen deutschen Küchenschränke - bloß Marmelade und Kaffee-Ersatz darin. Die Marmelade löffelten sie unter Gelächter der kleinen Gerti aufs Kopfhaar, dann streuten sie freigebig von dem Kaffee-Ersatz darüber.
Ich starrte die Kleine an, als sie leise und schamvoll diese Geschichte auf ihr Waschbrett herunter erzählte; ich versuchte, mir das Schauerbild vorzustellen. Nie, nie könnte ein Autor dergleichen erfinden.