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Wir plagten uns wieder redlich zu dritt. Die kleine Gerti war heute äußerst vergnügt, sang und trällerte in einem fort. Sie ist so froh, weil sie seit heute weiß, daß es kein kleiner Rußki geworden ist, damals auf dem Sofa. Wobei ich mir überlege, daß ich jetzt eine Woche überfällig bin. Trotzdem hab ich keinerlei Vorgefühle, glaube immer noch, daß ich durch mein innerliches »Nein« mich dagegen habe zusperren können. Die glückliche Gerti hatte arge Schmerzen. Wir suchten sie ein bißchen zu schonen, wuschen ihr die Sachen weg. Der Tag war grau und schwül, die Stunden schlichen. Gegen Abend kamen die Russen einer nach dem anderen daher und holten sich die mittlerweile getrockneten Sachen. Einer drückte ein zierliches Damentaschentuch mit Häkelsaum ans Herz und sprach, die Augen schwärmerisch verdreht, bloß ein Wort: den Ortsnamen »Landsberg«. Auch so ein Romeo, wie mir deucht. Vielleicht wird auch Petka in seinen sibirischen Wäldern der-einst seine Holzfällerpratze aufs Herz drücken und mit ähnlich verdrehten Augen meinen Namen murmeln - falls er mich nicht noch nachträglich holzhackend verflucht.

Im Abreisegetümmel brachte uns der Koch heute kein Truppenessen. Wir mußten die Graupensuppe in der Kantine mitschlappern. Dort ging die Parole um, daß der uns vorige Woche zugesagte Lohn von acht Mark pro Tag niemals ausgezahlt werde, daß alles Geld von den Russen eingesteckt worden sei. Dazu eine zweite, noch wildere Parole: Im Radio sei gesagt worden, daß ein Mongolensturm sich über Berlin ergießen werde, daß selbst Stalin diese Horden nicht bändigen könne und ihnen drei Tage Plünder- und Schändefreiheit habe gewähren müssen und allen Frauen anrate, sich in den Häusern zu verstecken... Der blanke Irrsinn, zweifellos. Aber die Frauen glauben's und schnattern und jammern durch-einander, bis unsere Dolmetscherin dazwischenfährt. Ein starkes Frauenzimmer, Dragonertyp. Sie duzt uns alle und tutet mit unseren Antreibern ins selbe Horn, obwohl sie keinen Auftrag dazu hat, sondern als Arbeiterin hergetrieben worden ist wie wir alle, bis sie dank ihrer paar Brocken Russisch (sie stammt aus dem polnischen Oberschlesien) zur Dolmetscherin aufgestiegen war. Was die sprachlich kann, kann ich lange. Ich bin aber heilfroh, daß ich nicht damit herausrückte. Ich hätte äußerst ungern Befehle und Treiberrufe übersetzt. Wir fürchten uns alle vor dieser Dolmetscherin. Sie hat spitze Eckzähne und einen grellen, boshaften Blick. So stelle ich mir Aufseherinnen im KZ vor. Am Abend in der Kantine wurde uns die Entlassung kund-getan. Nach unserem Sold, so hieß es, sollten wir nächste Woche im Rathaus fragen, Zimmer soundso, Kasse. Vielleicht gibt es dort wirklich Lohn, vielleicht auch nicht. Wir müssen es abwarten. Ich habe der kleinen Gerti und meiner anderen Mitwäscherin die Hand gedrückt - vorsichtig, denn wir haben alle drei aufgewaschene Hände - und ihnen alles Gute auf den Weg gewünscht. Gerti will nach Schlesien zurück, wo ihre Eltern leben. Oder lebten. Man weiß ja nichts.

Donnerstag, 31. Mai 1945 .

Heute fing mein selbständiges Hungerdasein in der Dach-wohnung an. Ich glaube, mein Drauflosfuttern bei der Witwe geschah aus instinktiver Voraussicht. Ich wußte ja, es konnte nicht dauern. Drum hab ich so viel in mich hineingestopft, wie hineinging. Das kann mir jetzt keiner nehmen. Um so härter ist der Übergang von der Fettlebe zum Beinah-Nichts. Vorräte hab ich nicht. Zuteilungen gab es bisher fast keine. Bleibt das Brot, das wir pünktlich bekommen. Für mich sind es 300 Gramm pro Tag, sechs graue Roggenbrötchen, die ich leicht zum Frühstück schaffe. Allerdings mußte ich heute mangels Brötchen ein Tausend-gramm-Brot nehmen. Hab ein Kreuz darüber gezeichnet, wie es Mutters fromme Mutter tat. Möge mir das Brot hier oben nie fehlen. Die drei Tagesdrittel habe ich mir mit Kerben in die Brotrinde markiert. Fett zum Draufstreichen ist keins da. Die Trockenkartoffel und der Rest Erbsmehl, mir von der Witwe in meinen Haushalt mitgegeben, reichen für zweimal Mittagessen. Für den Abend ist nichts Rechtes da außer Brennesseln. Das macht einen so matt. Jetzt, wo ich dies schreibe, hab ich ein Gefühl, als sei mein Kopf ein Luftballon, der gleich davonfliegen könnte. Und bücke ich mich, so wird mir schwindlig. Der Übergang ist zu kraß. Trotzdem freue ich mich, daß ich die paar fetten Wochen hatte. Davon bleibt mir Kraft. Einmal werden die Zuteilungen wohl in Gang kommen. Auf einen russischen Versorger kann ich nicht mehr rechnen. Damit ist es vorbei.

Hab heute den ganzen Tag in der Dachwohnung geschuftet. Ein Tag des völligen Schweigens und Alleinseins, der erste seit langem. Dabei hab ich entdeckt, daß inzwischen der Radio-Apparat des Wohnungsinhabers verschwunden ist. An der Stelle, wo er gestanden hat, sieht man im Kalk Händespuren; ja richtige Fingerabdrücke. Material für einen Sherlock Holmes. Ich schlußfolgerte, daß sich die Herren Dachdecker hier bereichert haben, will ihnen nun meinerseits aufs Dach steigen. Die Adresse kriege ich bei der Haushälterin unseres in Westdeutschland versackten Hauswirts. Sie spielt an seiner Statt im Hause Autorität und kassiert derzeit die Juni-Mieten ein. Die Mai-Mieten fallen von Amts wegen aus - der Monat Mai 1945 zählt bürgerlich nicht mit.

Freitag, 1. Juni 1945

Aus den Balkonkästen sprießt kraus der Kerbel, rundblättrig der Borretsch. Ich freue mich am Morgen über das kleine grüne Leben. Zum Frühstück gab es drei Brotschnitten, bestrichen mit einem Kleister, den ich mir selbst aus Trockenhefe und Wasser gemischt habe. Schmalhans regiert.

Trotzdem bin ich zu einem großen Marsch aufgebrochen, diesmal nach Steglitz, zu einer jungen Sekretärin aus meiner ehemaligen Firma.

Berlin säubert sich. Die Kinder sehen wieder gewaschen aus. Überall sieht man Familienkarawanen mit Handwagen – Flücht-linge aus Berlins Umgebung, die heimzu streben. Da und dort an den Mauern und Laternenpfählen kleben Zettel, welche die Schlesier und Ostpreußen zu Sammeltransporten in die Heimat aufrufen. In Richtung Westen soll es schwieriger sein, noch ist die Elbe unpassierbar. Dort haben Rußki und Ami sich getroffen, dort feiern sie, wie es im Radio hieß, noch immer Verbrüderung. Unterwegs kam ich an langen Frauenketten vorbei, blau und grau zogen sie sich über Trümmerberge. Eimer wanderten von Hand zu Hand. Rückkehr zu den Pyramidenzeiten, bloß, daß wir nicht aufbauen, sondern abtragen.

Das Haus stand noch, sah aber stark durchgepustet aus. In der Wohnung Brandspuren und Mauerrisse. Die Tapeten hängen in Fetzen; doch in Hildes Zimmerchen Blumen in den Vasen. Ich redete, da Hilde sonderbar still blieb, hastig auf sie ein, suchte allerlei Komisches zusammen, um sie zum Lachen zu bringen. Bis sie selber zu reden anfing. Da schwieg ich betreten.

Hilde war im dunkelblauen Kleid, weil sie kein schwarzes hat. Am 26. April hat sie ihren einzigen Bruder verloren. Während Mutter und Schwester im Keller zurückblieben, ging er hinauf auf die Straße, um die Lage zu peilen. Ein Granatsplitter riß ihm die Schläfe auf. Deutsche fledderten den Toten. Andere trugen die entkleidete Leiche in ein nahes Kino. Erst zwei Tage später fand Hilde, die überall herumsuchte, dort den Bruder. Mutter und Tochter fuhren ihn auf einem Handwagen zum Volkspark, hoben mit dem Spaten ein flaches Grab aus und betteten den in seinen Regenmantel gehüllten Siebzehnjährigen hinein. Dort liegt er noch. Gerade war die Mutter hingegangen, Flieder auf die Grabstelle zu bringen.

Von den Russen haben weder Mutter noch Tochter etwas abbekommen. Die vier Treppen zu ihrer Wohnung schützten; zudem ist das Treppengeländer vom dritten Stock ab zer-brochen, man glaubt nicht, daß höher noch jemand haust. Hilde berichtete, daß bei ihnen im Keller in der Eile auch eine aufgeschossene Zwölfjährige »mit verschlissen« wurde. Zum Glück war ein Arzt in Reichweite, kam ihr nachher zu Hilfe. Einer anderen Frau im Haus wurde von einem durchbrau-senden Russen ein dreckiges Taschentuch hinterlassen, in das allerlei Schmucksachen eingeknotet waren - ein Goldschatz, über dessen Fabelwert im Hause die tollsten Gerüchte umgehen. Das alles erzählt Hilde ganz unbewegt. Sie hat ein anderes Gesicht bekommen, sieht aus wie versengt. Sie ist auf Lebens-zeit gestempelt.