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Zurück machte ich einen Umweg, um meine Freundin Gisela aufzusuchen. Immer noch hat sie die zwei verlassenen Breslauer Exstudentinnen bei sich. Drei schmutzige Mädchen; sie hatten am Morgen etliche Stunden lang in der Frauenkette Trümmer abtragen müssen. Die blonde Hertha lag mit glührotem Kopf auf dem Sofa. Die Ärztin, die nebenan wohnt, hat auf Eierstockentzündung diagnostiziert. Zudem ist Hertha mit hoher Wahrscheinlichkeit schwanger. Sie bricht am Morgen das bißchen Trockenbrot aus. Der Mongole, der sie aufbrach, hat sie viermal hintereinander gehabt.

Zu Mittag hatten die drei Frauen eine dünne Mehlsuppe. Ich mußte mitessen, um sie nicht zu kränken. Auch hatte ich argen Hunger. Gisela schnippelte uns Brennnesseln hinein, die in den Balkonkästen wild wachsen.

Heimzu, und hinauf in meine Dachwohnung. Bild unterwegs: Schwarzer Sarg, stark riechend, da geteert, auf einem Handwagen mit Strippe festgezurrt. Mann und Frau schoben; ein Kind hockte obendrauf. Anderes Bild: Ein Müllwagen der Stadt Berlin. Sechs Särge darauf; einer diente den Müllkut-schern als Sitzbank. Sie frühstückten im Fahren, reichten eine Bierflasche herum, hoben sie reihum zum Mund.

Samstag, 2. Juni 1945

Ich habe Besuch bei dem einen der Dachdecker gemacht und schlankweg an seiner Tür erklärt, daß ich gekommen sei, den Radio-Apparat, der aus meiner Dachwohnung verschwunden sei, wieder abzuholen. Zuerst tat der gute Mann ahnungslos: Er wisse von keinem Apparat, ich müsse mich irren. Ich ließ einen schmutzigen Trick spielen: Zeigte ihm den alten Zettel vom Rathaus vor, auf dem zu lesen steht, daß ich dem Ortskommandanten als Dolmetscherin zugewiesen bin, und behauptete, daß mir jederzeit ein Russe zu eventueller Haussuchung zur Verfügung stünde. Worauf dem Mann die Erinnerung sogleich wiederkehrte: Ach ja, es könnte sein, daß sein Kollege, übrigens hier im gleichen Hause wohnhaft, den Apparat, der herrenlos herumgestanden, mitgenommen habe, um ihn sicherzustellen. Er hieß mich warten, kletterte eine Treppe höher und kehrte drei Minuten später mit dem - eingepackten, noch verschnürten - Apparat zurück. Sogar das Packpapier haben sie, wie ich gleich sah, aus der Dachwohnung genommen.

Die Macht als Druckmittel. Ich habe mit Hilfe eines Papierchens Macht vorgetäuscht. Der Trick zog prompt. Ich bin überzeugt, daß ich anders das Radio nicht zurückbekommen hätte. Trotzdem blieb ein klebriges Gefühl. Aber vermutlich bewegen sich mit Hilfe solcher Tricks die meisten Lebensmechanismen weiter - Ehen, Firmen, Staaten, Heere.

Über Mittag lag ich auf dem Balkon der Dachwohnung in der Sonne. Dabei schaute ich gradenwegs in das Fenster gegenüber. Eine Frau trat dort die Nähmaschine und steppte rote und blaue Streifen aneinander. Schnitt dann aus einem weißen Lappen Kreise heraus, zackte die Ränder zu Sternen. Stars and Stripes. Das soll eine amerikanische Flagge werden. Auf der Treppe hat mich die Grindige schon gefragt, wieviel Sterne die amerikanische Flagge haben müßte. Ich wußte nicht genau, ob 48 oder 49, verwies die Grindige auf das Lexikon der Witwe. Eine mühselige Flagge für deutsche Handnäherinnen, mühselig schon in den Farben; noch mühseliger im Muster. Wie einfach dagegen die russische Flagge: man braucht nur von den alten Hakenkreuzfahnen, die sich in jedem unverbombten Haushalt finden, das weißschwarze Hakenkreuzmotiv abzu-trennen; auf das Rot gilt es dann in Gelb Hammer und Sichel und Stern aufzunähen. Ich sah rührend krumme Hämmerlein und verbogene Sicheln. Am besten gelingt die Trikolore; denn auch die Franzosen sind Sieger: Einfach blau und weiß und rot, drei Streifen senkrecht aneinandergesteppt, und fertig. Für das Rot nehmen die meisten Näherinnen Inletts oder Nazifah-nenreste. Lakenreste für Weiß finden sich leicht. Problem ist auch hier das Blau. Ich sah, wie man Kinderkleider und Tischdecken dafür zerschnitt. Die Witwe hat für Hammer, Sichel, Sowjetstern eine alte gelbe Bluse geopfert. Nach ihrem Lexikon ist auch der britische Union Jack zusammengefummelt worden; nur, daß er nicht flattert, sondern wie ein Brett von der Fahnenstange absteht - steif durch etliche Meter Wäschelitze, die auf den Untergrund aus blauem Schürzenstoff aufgesteppt sind, um die roten Diagonal- und Kreuzstreifen festzuhalten.

Sowas ist auch nur in diesem Lande möglich. Ein Befehl erging - ich weiß nicht, woher - , daß mit den Fahnen der vier Sieger zu flaggen sei. Und siehe da, die deutsche Hausfrau zauberte aus dem Beinah-Nichts diese Fahnen. Wäre ich An-denkensammler aus Siegerland, so würde ich nachher herumgehen und diese wunderlichen Fetzen, so unterschiedlich in Farbe, Form und Stoff, als Kuriositäten einsammeln. Überall in unserer Straße kamen im Lauf des Nachmittags rührend schiefe, verschossene, puppenhafte Läppchen an den Häusern zum Vorschein.

Gegen 17 Uhr erschien unerwartet bei mir Ilse R., die ich vor beinah zwei Wochen in Charlottenburg besucht habe. Sie kam den weiten Weg daher, und sogar auf hohen Absätzen, da sie keine anderen Schuhe hat, feine Dame, die sie einmal war. Sie kam mit einem Plan. Ihr Mann kennt einen Ungarn, den es kurz vor dem Krieg nach Deutschland verschlagen hat. Der Ungar hat, so sagt sie, einen ganzen Packen US-Dollars. Damit will er etwas gründen. Am lohnendsten scheint ihm ein Verlag, in dem er Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zu publizieren gedenkt. Denn, so behauptet er, alle alten Verlage seien tot, da sie ja mit den Nazis paktierten. Also gehört jetzt dies ganze Feld dem Ersten, der mit einer weißen Weste aufkreuzt und Papier auftreibt. Mich wollen sie dazu haben, weil ich Verlagstraining habe und einen Umbruch machen kann. Ich kenne den Ungarn nicht, hab nie zuvor von ihm gehört, halte das Ganze für Wind. Aber vielleicht irre ich mich. Jedenfalls habe ich zugesagt. Sobald die Firma steht, würde ich eine Arbeitsbescheinigung bekommen - und damit Karte II und 500 Gramm Brot am Tag statt 300 Gramm. Nicht auszudenken!

Während Ilse bei mir war, kam die Witwe hinzu. Wir schwatzten zu dritt wie ein Damenkränzchen. Bloß Kaffee und Kuchen fehlten, ich hatte nichts anzubieten. Trotzdem waren wir alle drei recht lustig, übertrafen einander in puncto Schändungshumor.

Stiller Abend für mich, verschönt durch das Radiogerät, das ich den Dachdeckern abkämpfte. Hab aber bald wieder abgedreht. Nach Jazz, Enthüllungen, Heinrich Heine und Hu-manität kamen Lobsprüche auf die Rote Armee, die mir denn doch allzu überzuckert waren. Die sollten lieber gar nichts sagen oder es offen aussprechen: »Strich drunter, und nun ein neues Blatt.«

Sonntag, 3. Juni 1945

Stiller Morgen, heiße Sonne. Die armseligen, hausgemachten Fähnchen tupfen die Straße bunt. Ich püttjerte in der Wohnung herum, kochte auf der immer wieder versagenden elektrischen Heizplatte meine Graupensuppe. Noch zweimal Suppe, und die Graupen sind weg. Fett hab ich gar keins mehr; es gab noch keine Zuteilung. Doch sagte man mir im Laden, daß russisches Sonnenblumenöl im Anrollen sei. Und ich sah die weiten fettgoldenen Sonnenblumenfelder der Ukraine. Schön war's ja.

Nach dem Essen folgte mein zweiter Marsch nach Charlottenburg, quer durch das dunstige, verödete Berlin. Meine Beine bewegen sich ganz mechanisch. Ich bin wie eine Gehmaschine.

Bei Ilse und ihrem Mann traf ich den Ungarn; wirklich ist er von wildem Gründungsdrang erfüllt. Ein schwärzlicher Typus mit viereckiger Stirn, in frisch geplättetem Hemd und so gut genährt aussehend, daß ich ihm seine Dollars glaube. Er hielt in ziemlich brüchigem Deutsch einen Vortrag darüber, daß er als erstes eine Tageszeitung zu gründen gedenke. Dies künftige Weltblatt möchte er Die neue Tat nennen. Bei uns ist eben jetzt alles neu. Wir diskutierten über Art und Richtung des Blattes. Ein Zeichner war auch dabei; er hat bereits den Zeitungskopf entworfen, sehr keck.

Außerdem will der Ungar mehrere Zeitschriften gründen, eine für Frauen, eine für die reifere Jugend - Blätter zur demokratischen Umerziehung. (Das Wort hat er aus dem Radio.) Ich fragte ihn, wie weit er in seinen Verhandlungen mit den Russen bereits gediehen sei. Worauf er meinte, damit habe es Zeit - erst gelte es, alles Papier aufzukaufen, das in Berlin übriggeblieben sei, um so von vornherein eine Konkurrenz auszuschalten.