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Wir saßen einander am Rauchtisch gegenüber. Ich konnte bei meiner Müdigkeit das Gähnen nicht unterdrücken, fand keine Vokabeln mehr in meinem Kopf, war so dösig, daß ich gar nicht begriff, wovon Nikolai redete. Zwischendurch rappelte ich mich zusammen, gab mir Befehl, nett zu ihm zu sein; er selber war sehr freundlich, aber fremd. Offenbar hat er mit einem anderen Empfang gerechnet. Oder das bleiche Gespenst, in das ich mich verwandelt habe, gefiel ihm einfach nicht mehr. Schließlich kapierte ich, daß Nikolai auch diesmal nur gekommen war, um Abschied zu nehmen, daß er bereits außerhalb von Berlin steckt und heute nur auf einen Tag in Berlin zu tun hatte, zum letzten Mal, wie er sagte. Also brauchte ich ihm kein freundliches Gesicht zu zeigen, brauchte kein Interesse für ihn zu heucheln. Dabei verspürte ich die ganze Zeit über ein stilles Bedauern darüber, daß es mit Nikolai so gekommen ist. Er hat ein gutes Gesicht. Beim Abschied, im Hausflur, drückte er mir etwas in die Hand, flüsterte dazu: »En camerades, n'est-ce pas?« Es waren Geldscheine, über 200 Mark. Und er hat, außer ein paar halb vergähnten Redensarten meinerseits, nichts dafür gehabt. Gern würde ich mir für dies Geld etwas zu essen kaufen, und wenn es nur ein Abendbrot für heute wäre. Doch in solchen Zeiten hält jeder fest, was er hat. Da stirbt der Schwarze Markt.

Mittwoch, 6. Juni 1945

Wieder ist es Abend, und die Gehmaschine ist heimgekehrt. Draußen rinnt der Regen. Drinnen, o Freude, rinnt nun auch in meiner Dachwohnung das Wasser aus der Leitung. Hab die Badewanne gefüllt und mich mit Wassergüssen überschüttet. Vorbei das mühselige Treppenklimmen mit den schweren Wassereimern.

Wieder ein strammer Arbeitstag. Ich war mit dem Ungarn unterwegs, wegen der Miete von Arbeitsräumen. Vorher waren wir auf dem Rathaus, wo der Ungar sich Papiere besorgte, Stempel und Unterschriften, die seine Pläne und seine Unbescholtenheit bezeugen sollen. Ich sah dort wunderliche Figuren: Tanzjünglinge; eine getauchte Jüdin, die von ihrer Nasenoperation erzählte; einen ältlichen Mann mit brandrotem Assyrerbart, Maler von »entarteten« Bildern. Sie kriechen aus allen Löchern; Typen, wie man sie seit Jahren nicht sah.

Mit Ilse und ihrem Mann nach einem Täßchen echtem Bohnenkaffee hitzige Diskussion: Soll Herr R. einem Angebot folgen und nach Moskau gehen? Man bietet ihm eine führende Stellung, gutes Geld... Aber Ilse wehrt sich mit Händen und Füßen, schon weil der Mann vorerst allein fahren müßte. Aber auch er will nicht heran. Er möchte weiter westliche Luft atmen, hat bei unserer Verlagsplanerei Mut gefaßt und hofft, eines Tages doch wieder das alte Männerspiel um Geld und Macht und größere Autos mitspielen zu können. Heute verhandeln die Alliierten miteinander. Das Radio spuckt Reden, läuft über von den schönen Sprüchen, mit denen unsere Exgegner einander feiern. Ich verstehe bloß, daß wir Deutschen im Eimer sind, Kolonie, preisgegeben. Ich kann nichts dran ändern, muß es schlucken; will versuchen, mein kleines Schiff durchzusteuern. Harte Arbeit, spärliches Brot - doch die alte Sonne am Himmel. Und vielleicht spricht das Herz noch einmal. Was hab ich alles gehabt in meinem Leben - überreichlich!

Donnerstag, 7. Juni 1945

Heute hatte die Gehmaschine einen Tag Urlaub. Früh schon stand ich beim Gemüsefritzen an, nach Kürbis. Leider erwies sich das Zeug nachher als salzlakig - ich brachte es nicht herunter. Zum Glück bekam ich zwei Platten Trockengemüse, genannt »Drahtverhau«, und eine Tüte Trockenkartoffel. Dazu hab ich mir in den Vorgärten vor den Ruinen einen Beutel voll Brennesseln gezupft, pflückte vornehm mit meinen im Luftschutzgepäck geretteten Fischhaut-Handschuhen. Mit Gier hab ich das Grünzeug verschlungen, hab auch den grünen Kochsud ausgetrunken, fühlte mich richtig aufgefrischt. Rechnete mir dann aus, daß ich nun mehr als zwei Wochen überfällig bin, und stiefelte sieben Häuser weiter, wo das Praxisschild einer Ärztin hängt, obwohl ich nie zuvor dort gewesen war, gar nicht wußte, ob sie bereits wieder praktiziert. Ich traf eine blonde Frau, nicht viel älter als ich, die in einer durchgepusteten Bude amtiert. Statt der Scheiben hat sie alte Röntgenfilme mit fremden Brustkästen darauf in die Fenster-rahmen eingefügt. Sie ließ sich auf kein Geplauder ein, sondern ging gleich aufs Ziel los. »Nein«, sagte sie nach der Untersuchung, »nichts festzustellen, alles in Ordnung.«

»Aber ich bin im Rückstand. Sowas kenn' ich sonst gar nicht.«

»Was glauben Sie, wie vielen es jetzt so geht. Ich bin auch im Rückstand. Das liegt an der Ernährung. Da spart der Körper mit Blutungen. Sehen Sie zu, daß Sie wieder was an die Rippen kriegen. Dann kommt auch der Turnus in Ordnung.«

Sie forderte 10 Mark, und ich gab sie ihr mit schlechtem Ge-wissen. Was kann sie schon groß damit anfangen? Zum Schluß riskierte ich die Frage, ob nicht auch tatsächlich von Russen geschwängerte Frauen daherkämen und um Hilfe bäten.

»Davon spricht man wohl besser nicht«, sagte sie herb und entließ mich.

Stiller Abend, ganz für mich. Windstöße fegen durch die leeren Fensterrahmen, wirbeln Staub ins Zimmer. Wo ziehe ich bloß hin, wenn eines Tages der Wohnungsinhaber heimkehren sollte? Fest steht jedenfalls, daß ohne mein Vorhandensein die Dachwohnung längst von Dachdeckern und anderen Landsleuten ausgeräumt wäre. Fremde Möbel verheizen sich besser als eigene.

Freitag, 8. Juni 1945

Wieder war die Gehmaschine unterwegs. Heute wunderliches Erlebnis: Inzwischen ist probeweise ein Teilstück der S-Bahn wieder in Betrieb genommen worden. Ich sah oben auf dem Bahnsteig die roten und gelben Wagen stehen, klomm treppauf, löste für zwei von unseren alten Groschen eine Fahrkarte und stieg ein. Drinnen saßen die Leute so feierlich auf den Bänken. Sogleich rückten zwei zusammen und machten mir Platz. Es war eine Sausefahrt durch Sonne und Trümmerwüsten. All meine mühseligen, endlosen Gehminuten flogen an mir vorbei. Es tat mir ordentlich leid, daß ich schon so bald wieder aussteigen mußte. Die Fahrt war so nett, wie ein Geschenk.

Hab heute fleißig geschafft. Zusammen mit Ilse hab ich einen Aufriß für das erste Heft der geplanten Frauenzeitschrift gemacht. Bloß die Titel unserer Blätter stehen noch nicht fest; wir knobelten gemeinsam daran herum. Auf jeden Fall soll in jedem Titel das Wort »neu« vorkommen.

Seltsam traumhafter Tag, ich sah Menschen und Dinge wie durch Schleier. Heimweg auf wunden Füßen, bin schlapp vor Hunger. Bei Ilse gibt es jetzt nur noch einen Teller Erbsensuppe, für jeden zwei Suppenkellen voll, um den Vorrat zu strecken. Mir war, als ob alle Vorübergehenden aus hohlen Hungeraugen schauten. Morgen will ich wieder Brennesseln suchen. Ich peilte unterwegs schon jeden Flecken Grün darauf an.

Allerorten spürt man die Angst ums Brot, um Leben, Arbeit, Lohn, um den kommenden Tag. Bittere, bittere Niederlage.

Samstag, 9. Juni 1945

Wieder ein Ruhetag für mich. Wir sind übereingekommen, daß ich, solange ich nicht mehr zu essen habe, nur jeden zweiten Tag den mühsamen 20-Kilometer-Marsch antreten soll.

In dem Geschäft, wo ich eingetragen bin, bekam ich auf Marken Grütze und Zucker; wieder zwei oder drei Mahlzeiten gesichert. Dazu hab ich mit meinen vornehm behandschuhten Händen einen ganzen Berg Brennesseltriebe gezupft, hab auch Melde und Löwenzahnblätter gesammelt.

Am Nachmittag war ich zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten wieder beim Friseur. Hab mir ein Pfund Schmutz aus dem Haar waschen und Wasserwellen legen lassen. Der Friseur ist irgendwoher aufgetaucht, hat sich in den ziemlich durchgewühlten Laden eines verschollenen Kollegen gesetzt, den sie noch in letzter Minute zum Volkssturm geholt haben und dessen Familie nach Thüringen evakuiert sein soll. Ein Spiegel ist noch heil, eine verbeulte Haube noch halbwegs brauchbar. Völlig friedensmäßig war des Friseurs Redens-weise: »Jawohl, gnä' Frau, gewiß doch, gern, gnä' Frau...« Ich kam mir ganz fremd vor bei diesen beflissenen Redensarten. Die »gnä' Frau« ist gewissermaßen eine Binnenwährung, eine Münze, die nur unter uns gilt. Vor der Welt sind wir Trümmer-weiber und Dreck.