Doch die Beschwörung großer Namen soll nicht dazu dienen, eine literarische Rangbeziehung zu schaffen. Sie soll im Gegenteil die Einmaligkeit eines Buches betonen, das in schrecklichen Tagen und Nächten entstand - nicht als Literatur (wie die genannten Bekenntnisse), sondern als Selbsthilfe. Es läßt sich Gewisses nur vergessen, indem man es ausspricht.
Da es sich hier also um ein Dokument handelt, nicht um ein literarisches Erzeugnis, bei dessen Verfertigung der Autor mit einem Auge auf ein Publikum blickt, ist es nötig, einiges über die Authentizität zu sagen. Ich kenne die Autorin seit vielen Jahren. Sie kommt aus einem bürgerlichen Hause, eine Herkunft, die fünfzig Jahre zuvor ein junges Mädchen zur Heirat und zu sonst nichts geführt hätte. Sie erhielt eine vorzügliche Schulbildung und verriet bald Begabungen, die ihr frühe Selbständigkeit erlaubten. Zeichnend, photographierend und studierend durchzog sie ein gutes Stück Europa, nach Nord und Süd sowohl wie nach Ost und West. Erfahrung und Erlebnis hinderten sie, Kontakt zu den Organisationen des »Dritten Reiches« zu finden. An sich frei in ihren Entschlüssen, band sie jedoch eine übernommene Arbeit im letzten Kriegsjahr an Berlin - bis es zu spät war, Berlin zu verlassen. Als dann die rote Apokalypse über die Stadt hereinbrach, die damals trotz aller Evakuierungen noch vier Millionen Einwohner barg, begann die Autorin mit ihren Aufzeichnungen. Vom Freitag, dem 20. April 1945, bis zum Freitag, dem 22. Juni 1945, notierte sie in alte Schulhefte und auf losen Blättern, was ihr und den Bewohnern des Hauses, in das sie sich geflüchtet hatte, widerfuhr.
Während ich dies schreibe, habe ich diese Blätter vor mir. Ihre Lebendigkeit, wie sie sich in der Flüchtigkeit der kurzen Bleistiftnotiz zeigt, die Erregtheit, die sie da ausstrahlen, wo sich die Feder spreizte, ihr Gemisch von Kurzschrift, Normalschrift und Geheimschrift (es bedeutete äußerste Gefahr, ein solches Tagebuch zu führen), die schrecklichen Abkürzungen (immer wieder dieses VG = Vergewaltigung), das alles verliert sich wohl in der Neutralität der gedruckten Schrift. Doch ich meine, daß sich aus dem Duktus der Sprache ablesen läßt, was die gedruckte Schrift verschweigt.
Ich kenne das Haus, das hier beschrieben wird. Ich wohnte in der Nachbarschaft. So ergab es sich, daß ich auch mehr oder weniger gut einige der Bewohner dieses Hauses kennenlernte.
Auf der Suche nach verschollenen Freunden kam ich 1946 wieder nach Berlin. Ich besuchte dieses Haus. Auf der Treppe schon wurde ich von einer Flut von Erlebnissen überschüttet. Sie wurden mir nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen und Mädchen mit solcher Bekennerwut nahegebracht, daß ich ums Haar so reagiert hätte wie der heimkehrende Freund, der gegen Ende des Tagebuchs erwähnt wird - hätte ich nicht selber auf anderen Schauplätzen genügend erlebt, um von der befreienden Kraft des Bekennens zu wissen.
Ein halbes Jahr später traf ich an anderem Orte die Autorin wieder. Aus Andeutungen erfuhr ich von der Existenz eines Tagebuches. Es währte ein weiteres halbes Jahr, bis ich es lesen durfte; und ich fand darin vieles minutiös berichtet, was ich aus den Schilderungen der anderen bereits wußte. Ich fand die Menschen, die ich kannte. Es dauerte mehr als fünf Jahre, bis ich die Autorin zu überzeugen vermochte, daß dieses Tagebuch publiziert werden muß; weil es einzigartig ist.
Aus all diesen Umständen ergibt sich: In diesem Buch wird nichts als die Wahrheit und noch einmal die Wahrheit beschrieben. Der bewährte Satz »Alle Personen und Ereignisse in diesem Buch sind erfunden, und wo eine Ähnlichkeit mit irgendeiner lebenden oder toten Person vorhanden zu sein scheint, ist dies rein zufällig« kann also nicht vorangestellt werden. Doch sind aus Gründen des Taktes und der Politik sämtliche Namen und zahlreiche Details abgeändert.
Daß die Autorin anonym zu bleiben wünscht, braucht einem Leser des Buches wohl nicht begründet zu werden. Die Lektüre weckt die zwiespältigsten Empfindungen. Es liegt das in der Person der Autorin. Am erschreckendsten erscheint die Kälte, mit der sie aufzeichnet; bis man erschüttert bemerkt, daß hier keine künstliche Objektivierung stattgefunden hat (wie etwa durch die Literatur-Erfindung des »Kamera-Auges« von Dos Passos), sondern Kälte sich ausbreiten muß, weil die Empfindungen erfroren waren - erfroren vor Entsetzen. »Ich glaube, es war Verzweiflung, die meine Nerven stählte«, berichtet sehr nüchtern der Schiffersmann, der im Maelstrom entkam - in der Erzählung des Edgar Allan Poe. - So ist die Haltung der Autorin auch nicht fatalistisch zu nennen, obwohl ihr Charakter gewisse fatalistische Züge erkennen läßt. Eine vielleicht auftauchende Frage möchte ich aus Kenntnis des Milieus als unzulässig zurückweisen: Ob die Autorin sich in der einen oder anderen Situation hätte anders verhalten können? Mir steht es zu, hier zu sagen, was die Autorin nicht einmal andeutet: Dadurch, daß sie Russisch sprach, war sie für ein ganzes Haus voller Menschen der einzige Parlamentär. Im Krieg zwischen östlichen und westlichen Völkern war die weiße Flagge niemals echter Schutz, und mehr als ein freiwilliger Parlamentär starb zwischen den Fronten.
Wem überhaupt steht es zu, vor solchem Massenschicksal nach moralischem Maßstab zu suchen, der nur ans Individuum angelegt werden darf? Keinem Mann! - denn allzu viele waren es, die vor der Maschinenpistole zu Frau oder Tochter sagen mußten: »Nun geh schon mit!« Und wer nie vor einer Maschinenpistole stand, der soll hier schweigen. Aber auch keiner Frau! - sofern sie nicht einmal wenigstens im Strom eines Massenschicksals trieb. Aus der Sicherheit ist's allzuleicht, zu richten.
Befremdlich ist, daß das Buch ohne Haß ist. Aber da, wo alle Empfindungen erfroren, konnte auch kein Haß mehr lodern. Durch Sigmund Freud wissen wir (aber ich warne hier, sich durch gängige Vokabeln der Psychoanalyse die Tiefenlotung zu leicht zu machen), daß Triebe ihr Ziel verändern können, »dass sie einander ersetzen können, indem die Energie des einen Triebs auf einen ändern übergeht«. Es wird keinem Leser verborgen bleiben, daß in den Bewohnern dieses Berliner Hauses ein Trieb alle ändern überwucherte: der Hunger. Das aber ist der Trieb zum Überleben, zu welchem Preis auch immer.
Wichtig scheint mir noch, was mir im Jahre 1947 die Autorin einmal sagte: »Keins der Opfer kann das Erlittene gleich einer Dornenkrone tragen. Ich wenigstens hatte das Gefühl, daß mir da etwas geschah, was eine Rechnung ausglich.« Inmitten der Unmenschlichkeit nach Gerechtigkeit zu fahnden - dies scheint mir das bemerkenswerteste Merkmal dieses Dokuments zu sein, eines document humain und deshalb nicht eines document politique.
So entkam die Autorin den Strudeln mit dem heimlichen Triumph, daß sie aus den Tiefen des Maelstroms emporzusteigen vermochte, nicht weil ein physikalisches Gesetz half, sondern weil sie sich nicht aufgab, obwohl sie sich preisgeben musste.
C.W Ceram, August 1954
(Kurt W Marek)