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14 Uhr. Soeben kam ein Sonnenblick. Ganz gedankenlos trabte ich zum Hofbalkon und schmorte auf meinem Korbstuhl eine Weile in der Wärme - bis eine Serie flotter Koffer über mir wegsauste. Die Einschläge dröhnten ineinander. Ich hatte glattweg den Krieg vergessen. Überhaupt ist mein Kopf seltsam leer - hier bin ich beim Schreiben zusammengezuckt, nah schlug was ein, eine Scheibe zerklirrte. Wieder plagt mich bei vollem Magen der Hunger. Ich habe das Bedürfnis, auf irgend etwas herumzukauen. Wovon mag wohl jetzt das milchlose Brustkind leben? Eine alte Frau in der Schlange gestern empfahl, als die Rede auf das Kindersterben kam, für die Kleinsten mangels Milch zerkautes, gut eingespeicheltes Brot.

Was ist solch ein Großstadtsäugling doch für ein armes Luder, wenn der kunstvolle Mechanismus seiner Milchversor-gung zerbricht. Selbst wenn die Mütter jetzt noch halbwegs zu essen haben und selber nähren können - über dem, was gnadenlos für uns alle heranrückt, wird ihnen der Quell versiegen. Zum Glück ist das Kleinste in unserem Keller schon anderthalb Jahre alt. Gestern sah ich, wie jemand der Mutter ein paar Kekse für das Kind zusteckte. Es war wohl das einzige Zustecken in diesen Tagen. Sonst verkramt und verbirgt ein jeder das Seine und denkt gar nicht ans Weggeben.

Wieder im Keller, 21 Uhr. Gegen Abend erschien eine fremde Frau und bat die Witwe und mich, mit ihr ins Lazarett zu gehen und dort auszuhelfen.

Am Horizont Rauch und Röte. Der Osten brennt. Es heißt, die Russen stehen schon an der Braunauer Straße. Ausgerechnet Braunau, der Ort, an dem Adolf das Licht der Welt erblickte. Wobei mir ein Kellerwitz einfällt, gestern vernommen: »Junge, wie gut könnten wir's haben, wenn det 'ne Fehlgeburt geworden wäre.«

Wir gerieten im Lazarett in eine vollgerauchte Bude. Wilder Männerbetrieb, Streit und Geschrei: »Ich hab 'nen Lungen-steckschuß draußen im Wagen!« - »Mach raus, fahr weiter, hörst doch, wir haben kein Bett frei.« Der Sankafahrer tobt: »Mich haben sie hierher verwiesen.« - »Mach raus, oder-!« Der Feldwebel droht mit Fäusten. Der Fahrer haut ab, wobei er wütend vor sich hin schimpft.

Durch den Korridor schleichen Leichtverletzte, einer auf nackten Füßen, die blutende Hand in seine Socken gewickelt. Ein anderer, gleichfalls barfüßig, hinterläßt im Gehen Blutspuren; quatschig lösen sich daraus seine Sohlen. Wachs-gelbe Gesichter unter Kopfverbänden, mit schnell wachsenden roten Placken darin. Wir treten noch in zwei, drei Stuben.

Überall Atmosphäre von Männern, Mief, Feldlager, Nervosität. Einer schnauzt uns an: »Was wollen Sie denn hier?«

Die Frau, die uns geholt hat, sagt schüchtern, es sei einer im PKW vorbeigefahren und habe gerufen, im Lazarett würden Frauen als Hilfe gebraucht.

»Quatsch, wir haben nichts für Sie zu tun. Gehn Sie nur wieder nach Hause.«

Eigentümlich der wegwerfende, verächtliche Ton, mit dem hier weibliche Hilfe abgelehnt wird. So, als wollten wir uns an die Geschütze drängen oder sonstwie Soldat spielen. Auch da muß ich eingelernte Vorstellungen aus mir hinauswerfen. In früheren Kriegen bestand die Rolle der Frau darin, den guten Engel zu spielen. Scharpiezupfen. Kühlende Hand auf heißen Männerstirnen, immer schön weitab vom Schuß. Jetzt gibt es keine Heimatlazarette mehr in unserem Land. Überall ist Front.

Allerdings versucht dies Lazarett, eine Art Insel im Getöse zu bleiben. Das Dach ist mit Riesenkreuzen bemalt, und auf dem Rasen vorm Haus sind in Kreuzform weiße Tücher gebreitet. Aber die Luftminen sind unparteiisch, und im Bombenteppich gibt es keine Barmherzigkeitslöcher. Das wissen auch die im Lazarett. Sonst hätten sie ihre Keller nicht so vollgepackt. Aus den Fenstern zu ebener Erde blickten zwischen den Gitterstäben überall Männergesichter durch...

Wieder im Hauskeller, um 21 Uhr. Fiebrig erregtes Kellervolk heute, aufgekratzt, nervös. Die Hamburgerin erzählt mit spitzen S-Lauten, daß sie heute morgen eine telefonische Verbindung bekommen hat, und zwar mit Freunden in der Müllerstraße, Nordberlin. »Wir sind schon Russen«, hat die Freundin in den Apparat gerufen. »Soeben rollen unten die Panzer ein. Die Iwans lachen. Das Volk drängt sich am Straßenrand, es lacht und winkt, man hält die Kinder hoch...« Der Rote Wedding, alte Kommunistengegend. Es könnte schon stimmen. Sogleich geht ein heftiger Disput über diese Neuigkeit los. Am Ende, so meinen einige, hat uns die Propaganda bloß dumm gemacht? Am Ende sind »die« gar nicht so... Aber da redet das Flüchtlingsmädel aus Ostpreußen dazwischen, das sonst nie etwas sagt, schreit abgerissene Sätze in seinem Dialekt, findet die rechten Worte nicht, fuchtelt mit den Armen, kreischt: »Sie wer'n schon erleben...«, und schweigt wieder. Worauf auch der Keller wieder schweigt.

Die Likörfabrikantin reitet übrigens auf einer neuen Parole herum: Ribbentrop und v. Papen seien soeben nach Washing-ton geflogen, um sich mit den Amerikanern persönlich auszu-sprechen. Sie bekommt gar keine Antwort.

Der Keller ist düster. Die Petroleumlampe blakt. Die Phosphorringe, die in Augenhöhe um die Balken herum gemalt sind, damit man im Dunkeln nicht dagegenrennt, geben einen grünen Schein. Wir haben Zuwachs gekriegt. Das Buchhändler-paar hat seinen Kanarienvogel mit heruntergebracht. Mit einem Handtuch zugedeckt hängt der Käfig drüben am Balken. Beschuß draußen, drinnen Stille. Alles döst oder schläft.

Mittwoch, 25. April 1945, nachmittags

Ich rekapituliere: Gegen l Uhr nachts stieg ich aus dem Keller in den ersten Stock, haute mich wieder auf der Couch bei der Witwe hin. Plötzlich heftiger Bombenfall, die Flak tobt. Ich warte, bin so schlaftrunken, mir ist alles gleich. Die Fenster-scheibe ist bereits entzwei, Wind mit Brandgeruch weht herein. Unter dem Bettzeug hab ich ein idiotisches Gefühl von Sicherheit, als seien die Decken und Laken aus Eisen. Und dabei soll gerade Bettzeug so gefährlich sein. Dr. H. erzählte mir einmal, wie er eine im Bett getroffene Frau verarzten mußte, der die Federpartikel bis tief in ihre Wunden hineingedrungen waren, so daß man sie kaum herausbekam. Aber es kommt der Augenblick, wo tödliche Müdigkeit über die Angst siegt. So schlafen wohl auch Frontsoldaten im Dreck.

Ich stand um 7 Uhr auf, der Tag begann mit bebenden Mauern. Nun tobt die Schlacht auf uns zu. Kein Wasser mehr, kein Gas. Ich wartete eine halbwegs ruhige Minute ab und jagte die vier Treppen hoch in meine Dachwohnung. Wie ein Tier in seine umstellte Höhle, so schlich ich mich in die Zimmer, stets zu hastigem Rückzug bereit. Griff mir etwas Bettzeug und Waschkram und floh damit abwärts, in den ersten Stock, zur Witwe. Wir vertragen uns gut miteinander. Man lernt sich schnell kennen in solchen Tagen.

Mit einem Eimer in jeder Hand wanderte ich durchs blühende Laubengelände zur Pumpe. Die Sonne strahlte so warm. Lange Pumpenschlange, jeder rührte den Schwengel für sich; er bewegt sich schwerfällig, mit Gequietsche. Zurück die Viertel-stunde Weg mit überschwappenden Eimern. »Wir sind alle hübsch lastbare Eselinnen.« (Von Nietzsche, glaub ich.) Bei Bolle immer noch Geschubse wegen der Gratisbutter. Bei Meyer endlose, dunkelfarbige Schlange, die ausschließlich aus Männern besteht; es wird dort Schnaps verkauft, pro Ausweis ein halber Liter, alle vorhandenen Sorten.

Ich ging gleich nochmals Wasser holen. Auf dem Rückweg plötzlich Bombenfall. Aus dem Rasenplatz vor dem Kino stieg eine Säule aus Rauch und Staub. Zwei Männer vor mir warfen sich platt in den Rinnstein. Frauen rannten in den nächstbesten Hausflur, treppab. Ich hinterdrein, abwärts, in einen völlig fremden Keller, der nicht die Spur von Beleuchtung hat. Die vollen Eimer schleppte ich mit, sonst werden sie einem geklaut. Drunten im Stockfinstern ein aufgescheuchter Haufen, unheimlich. Eine Frauenstimme ächzt: »Mein Gott, mein Gott...« Und wieder Stille.