War das ein Gebet? Ich denke zwei Jahre zurück, sehe mich im kümmerlichsten aller kümmerlichen Keller, einer wahren Gruft, unter einem einstöckigen Dorfhaus. Ein Ort mit 3000 Ein-wohnern, unwichtig, doch auf dem Weg zum Ruhrgebiet gelegen. Eine Kerze brannte in der Finsternis, und die Frauen (Männer gab es dort kaum) beteten den Rosenkranz, den schmerzhaften; ich höre sie noch, eintönig, leiernd: »... der für uns ist gegeißelt worden...« Und wieder die Vaterunser, die Aves, monoton, gedämpft, lindernd und lösend, wie es wohl das »Om mani padme hum« tibetanischer Gebetmühlen sein muß. Dazwischen dann manchmal Motorengebrumm, einmal Bom-benfall, der die Kerzenflamme zittern machte. Und wieder: »...der für uns das schwere Kreuz getragen.« Damals griff ich mit Händen, wie das Beten eine Ölschicht über die erregten Gemüter breitete, wie es guttat, wie es half. Seither hab ich niemals wieder einen betenden Keller erlebt. Hier in Berlin, in diesen buntgemischten vierstöckigen Mietshäusern, wird sich wohl kaum eine Betergemeinde zu gemeinsamen Vaterunser finden. Sicherlich werden auch hier Gebete geflüstert, öfter vielleicht, als es den Anschein hat. Und es wird »mein Gott, mein Gott« geächzt. Doch wird die Ächzende kaum wissen, was sie da spricht, sie greift auf entleerte Formeln zurück, benutzt sie mechanisch und ohne Sinn.
Nie hab ich das Sprichwort »Not lehrt Beten« gemocht. Es klingt so höhnisch, so wie »Not lehrt Betteln«.
Ein Gebet, von Angst und Not erpreßt aus dem Munde solcher, die an guten Tagen nichts vom Gebet wußten, ist kläg-liches Gebettel.
Ein Sprichwort »Glück lehrt Beten« gibt es nicht. Solch ein Dankgebet müßte frei hochsteigen wie wohlriechender Weihrauch. Aber das sind Spekulationen. Unsere Sprache wird recht haben, wenn sie die Wörter »beten« und »betteln« ähnlich wie Brüder formte. Es gab ja einmal Zeiten, wo der Bettler an die Kirchentür gehörte wie die Klinke; da er sozu-sagen legitim und von Gottes Gnaden war wie der König, auf daß der König einen äußersten Gegenpol auf Erden habe und der Beter und Gott-Anbettier einen, dem gegenüber er die spendende Gottesfunktion ausüben konnte. Womit ich immer noch nicht herausgefunden habe, ob das Geächz im finsteren Keller Gebet war. Eins steht fest: daß es ein Glück und eine Gnade ist, unter der Kelter und Folter unserer Not und Angst leicht und ohne Beschämung beten zu können. Ich kann es nicht - noch nicht, noch wehre ich mich dagegen.
Als ich vom Wasserholen zurück war, schickte mich die Witwe auf Kundschaft zur Fleischschlange. Dort großes Geschimpfe. Es scheint, daß immer wieder die Zulieferung von Wurst und Fleisch stockt. Dies ärgert die Frauen im Augenblick mehr als der ganze Krieg. Das ist unsere Stärke. Immer haben wir Frauen das Nächstliegende im Kopf. Immer sind wir froh, wenn wir vom Grübeln über Künftiges ins Gegenwärtige flüchten dürfen. Die Wurst steht zur Zeit im Vordergrund dieser Hirne und verstellt ihnen perspektivisch die großen, doch fernen Dinge.
Im Keller wiederum, gegen 18 Uhr. Konnte oben nicht länger ruhig liegen, bekam Angst, da Volltreffer nahebei und dicke Kalkbrocken auf meine Wolldecke gefallen sind. Hab hier unten geduselt, bis die Henni vom Bäcker kam und meldete, daß ein Volltreffer in die Drogerie neben dem Kino gegangen sei. Der Inhaber war gleich tot. Ob durch Splitter, Luftdruck oder Herzschlag, war nicht sofort feststellbar. Henni sagt, er hat nicht geblutet. Aus dem Drei-Schwestern-Pudding der schwarzen Damen erhebt sich eine und fragt mit vornehm gespitztem Munde: »Ach bitte - wie ist der Mann kaputtgegangen?« So reden wir jetzt, so sind wir sprachlich heruntergekommen. Das Wort Scheiße rutscht uns leicht von der Zunge. Man spricht es mit Befriedigung aus, als könnte man inneren Unrat damit ausstoßen. Man kommt der drohenden Erniedrigung auch sprachlich entgegen
Donnerstag, 26. April 1945, 11 Uhr morgens
Ich schreib mit zittrigen Fingern. Noch atmen wir Kalkstaub. Vor dreißig Minuten ist ein Volltreffer in den vierten Stock gegangen. Bin außer Atem, komme im Galopp aus meiner Dachwohnung. Ein Saustall aus Kalkbrocken, Splittern und Glasscherben. Leb wohl, du mein kurzes Beinah-Zuhause, bist einstweilen unbewohnbar.
Hab mir allerlei Zeug gegriffen, einen Topf, Handtücher, Verbandmull - was man so braucht. Meine Kehle ist ausgedörrt, der Schlund brennt noch vom Kalkstaub. Zu trinken hab ich hier unten nichts. Dabei sind soeben ungezählte Liter Wasser aus den Heizkörpern oben ausgelaufen. Wir haben -
Halt, ich will zuvor rekapitulieren, schrieb so lange nicht mehr, und so viel ist passiert. Es begann damit, daß gestern abend gegen 19 Uhr jemand in den Keller kam und meldete, daß drüben im Eckladen Puddingmehl ausgegeben werde. Ich - mit hin, mich angestellt. Plötzlich russische Bomben. Die Schlange blieb erst einmal stehen, wand sich nur in das benachbarte Trümmergrundstück hinein, als ob es unter den Mauerresten Deckung gäbe. In Richtung Berliner Straße sah man Rauch und Flammen. Dann neue Bombenserie, näher. Ich ließ das Pud-dingmehl fahren und hetzte über den Fahrdamm zum Keller zurück. Ein Mann schrie mir zu: »An der Wand lang!« Geknatter, Trümmer spritzten. Endlich im Keller, wenn auch ohne Puddingmehl. Die Portiersfrau jammerte, weil ihre Tochter drüben geblieben war, hatte sich wohl nicht beim Beschuß über die Straße getraut.
Nach einer halben Stunde kam sie, ohne Puddingmehl. Hat, wie sie sagt, dolles Schwein gehabt. Hat sich noch in den Keller des Eckladens quetschen können, kurz bevor der Treffer vor dem Haus landete. Einer von denen, die nicht mehr in den Keller hineinkonnten, ein halbwüchsiger Junge, bekam einen Splitter in den Schädel. Die Erzählerin ist beim Hinausgehen über den Toten weggestiegen. Sie zeigt uns nun, wie es ihm weiß und rosa aus der Schläfe quoll. Morgen soll die Verteilung von Puddingmehl weitergehen. Es soll noch genug davon im Laden sein.
Gegen 21 Uhr ging die Kellergemeinde schlafen. Die Witwe hat nun auch für mich eine Art Bett eingerichtet, im Vorraum zwar, da drinnen zwischen den Stützbalken kein Platz mehr ist, doch weich und warm. Ich schlief ein, erwachte von Bomben. Etwas leckte an meiner herabhängenden Hand. Es war Foxel, der Terrier unseres nicht vorhandenen Hauswirts. Foxel, netter Kerl, hab keine Angst. Wir beide sind allein im Vorraum. Es fehlen hier die Stützen, dafür ist die Luft rein, und es stört uns kein Geschnarch und Gestöhne.
Früh am Morgen auf, zum Wasserholen an die Pumpe. Ich las draußen zum ersten Mal seit Tagen wieder Gedrucktes, und sogar frisches. Eine Zeitung namens Panzerbär. Jemand hat sie beim Bäcker neben das Schaufenster geklebt. Darin stand der Wehrmachtbericht von Dienstag, also zwei Tage alt. Danach dringt a) der Feind vor und sind b) deutsche Verstärkungen im Anmarsch. Außerdem heißt es, daß Adolf und Goebbels in Berlin seien und dort bleiben würden. Und am Bahnhof Schöneberg, so meldet eine tiefbefriedigte Reportage, baumelt zur allgemeinen Ansicht der Soldat Höhne, Deserteur.
Frühstück im Keller. Jeder praktiziert, so gut er kann, eine Art von Familienleben. Auf Koffern, Kisten und Stühlen wird mit Hilfe von Papierservietten und Deckchen der trauliche Morgen- tisch bereitet. Den wärmenden Kaffeepuffs entsteigen Kannen mit Getränken, die auf Holzfeuern oder Spirituskochern bereitet worden sind. Man sieht Butterschalen, Zuckerdosen, Mar-meladegläser, silberne Löffel. Es ist alles da. Die Witwe hat in ihrer Küche auf einem Feuer aus zerklopften Sektkisten Boh-nenkaffee gezaubert, er tut gut. Ringsum kribblige Luft und Gezänk. Das Kellervolk geht einander auf die Nerven.
Kurz vor 10 Uhr fiel dann der Koffer aufs Hausdach. Wüster Stoß, Geschrei. Schneebleich kam die Portiersfrau angetorkelt, klammerte sich an einen Balken. Von ihrer Mutter gestützt, folgte S-tinchen, die Achtzehnjährige. Zausig hing ihr das kalkgraue Haar ums junge Gesicht, Blut sickerte dazwischen. Es hat sie erwischt, als sie den Hof überquerte. Sogar das Mätzchen in seinem Bauer hat die allgemeine Erregung mitgespürt, es zickzackte hin und her und piepte schrill.