Später, in der großen, knarrenden Kajüte, unter dem schwankenden Schein der Tischlampe, den Kopf in die Hand gestützt, starrte Bolitho auf den Brief an seine Schwester in Falmouth nieder.
Er sah Nancy deutlich vor sich. Dunkeläugig, stets vergnügt, hatte sie ihm immer nähergestanden als Felicity, seine andere Schwester, die er seit sechs oder sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie lebte mit ihrem Mann, einem Armeeoffizier, in Indien. Nancy dagegen war als Frau des Gutsbesitzers und Ratsherrn Lewis Rox-by in Falmouth geblieben, der, wenigstens nach Bolithos Ansicht, ein aufgeblasener, langweiliger Kerl war. Einst hatten sie zusammen im Schatten der Mauern von Pendennis Castle gelebt. Mit Hugh, und dann, drei Jahre später, mit Nancys beiden Kindern Helen und James. Jetzt war Hugh tot und Felicity auf der anderen Seite der Erde, und sie hatte keine Ahnung, daß die französische Flotte über das blaue Meer nach Ägypten segelte und dann zu ihr nach Indien wollte.
Nancys Kinder waren erwachsen, fast in Adams Alter. Es war eine andere Welt. In Falmouth hing die Luft jetzt bestimmt voller
Blütenduft. Kuhgebrüll, Pferdewiehern, Schafsblöken und die Kneipen voll lachender Menschen, die sich freuten, weil die We ide- und Fischgründe wieder so ausgiebig gewesen waren.
Er schrieb weiter: >… und der junge Adam ist gesund und munter; er macht seinen Dienst mit einem Schwung, über den sich Vater gefreut hätte.
Es ist noch nicht ganz sicher, liebe Nancy, aber ich glaube, Thomas hat endlich die Richtige getroffen. Ich hoffe es wirklich sehr, denn einen besseren Ehemann könnte es kaum geben.<
Oben beim Skylight hörte er Schritte und Stimmen. Er blickte hoch. Aber sie entfernten sich, und er zermarterte sich den Kopf, was er seiner Schwester noch schreiben konnte. Jedenfalls nichts von der Kehrseite der Medaille. Von den Gesichtern der Mannschaft, wenn sie sich unbeobachtet glaubten und an ihre eigenen Familien dachten, von denen sie sich mit jeder Stunde immer weiter entfernten. Ebensowenig konnte er ihr erklären, was er vorhatte, und wie gering die Erfolgschancen waren. Dennoch würde sie sich das eine oder andere denken können. Schließlich war sie die Tochter eines Kapitäns und Enkelin eines Admirals. Nancy würde Bescheid wissen.
>. Du wirst Dich an Francis Inch erinnern<, schrieb er weiter, >seit er Sir Horatio Nelson gesehen hat, fühlt er sich dreimal so groß und dreimal so bedeutend. Er war mächtig beeindruckt; ich habe allerdings den Verdacht, er hat sich Our Nel als eine Art Riesen vorgestellt und nicht als einen eher kleinen, schmächtigen Mann mit nur einem Arm und dem Temperament eines Kohlenschiffers!
Liebe Grüße an Dich und die Kinder, auch von Adam, der immer noch denkt, Du bist so eine Art Engel. Er kennt Dich eben nicht so gut wie ich.<
Lächelnd stellte er sich vor, wie Nancy diese Stelle des Briefes freuen würde. Damals, als er auf See gewesen und Adam plötzlich unbekannt und hilflos aus dem Nichts aufgetaucht war, war er zu ihr gekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keiner in der Familie, nicht einmal sein Vater Hugh gewußt, daß Adam überhaupt existierte. Unehelich geboren, hatte er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr bei seiner Mutter in Penzance gelebt, und als sie gestorben war, hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht, zu der Familie, der er in Wirklichkeit angehörte. Ja, an diese Tage würde sich Nancy erinnern, wenn sie den Brief las. Er schloß: >Denke manchmal an uns! Dein Dich liebender Bruder Dick.<
Da trat Allday ein und sah ihn neugierig an.»Moffitt hat Ihre Befehle für die Harebell fertig Sir. «Er sah zu, wie Bolitho seinen Brief versiegelte und adressierte.»Nach Falmouth, Sir?»
«Ja. Ich habe meiner Schwester geschrieben, daß Sie so widerborstig sind wie immer.»
Ozzard kam herein, und Allday fuhr herum.»Na?»
Ozzard zog sich zurück.»Wünscht der Kommodore noch etwas zu essen oder zu trinken?»
Bolitho stand auf, ging unschlüssig zur Schottwand und betastete seinen Degen.
«Legen Sie mir morgen meine Gala-Uniform zurecht, Ozzard. «Langsam drehte sich Allday zu ihm um.»Dann glauben Sie also.»
Bolitho sah an ihm vorbei.»Ja. Ich spür's in den Knochen. Morgen oder nie.»
«Auf diese Nachricht brauche ich einen Rum, damit ich schlafen kann. «Aber er grinste.»Mehrere, höchstwahrscheinlich.»
Noch bis eine Stunde nach Mitternacht lief Bolitho in der Kajüte auf und ab, dachte an allerlei Menschen und daran, was er mit ihnen gemeinsam erlebt hatte.
Endlich gab er der Deckwache Order, ihn morgen bei Sonnenaufgang zu wecken, und legte sich in die Koje.
Überraschenderweise fühlte er sich ruhiger als jemals seit seinem Fieberanfall, und kaum hatte er die Augen geschlossen, da schlief er auch schon ein.
Eine Hand an seiner Schulter weckte ihn. Herrick stand mit einer abgeblendeten Laterne vor ihm. Das Skylight erglühte im rötlichen Schein.
«Was ist, Thomas?»
Ganz schwach kam es wie ein Echo über die See: Hurrarufe. »Harebell hat beim ersten Licht signalisiert, Sir«, sagte Herrick ernst. »Feindin Sicht.»
XVIII Im Schlachtgetöse
Zusammen mit Herrick schritt Bolitho über das Achterdeck. Schattenhafte Gestalten wichen ihnen aus, und Grubb meldete:»Kurs Ost zu Nord, Sir.»
Veitch, der die Wache hatte, kam ihnen entgegen und faßte grüßend an den Hut. »Harebell hat eben wieder signalisiert, Sir: Schiffe in Nordwest.«Mißbilligend blickte er zu den Signalgasten hinüber.»Mr. Glasson hat seine Männer nicht richtig im Schwung; ich fürchte, ein paar Signale sind uns entgangen.»
Bolitho nickte.»Die Schiffe, die Inch gesehen hatte, waren zweifellos die Vorhut eines größeren Verbandes. Sonst wären sie näher herangekommen.»
Er spähte zu seinem Stander empor. Der glänzte im Licht des neuen Tages, während die unteren Rahen und Wanten noch im Schatten lagen.
«Also — Signal an Geschwader: Vorbereiten zum Gefecht. Haben Ihre Leute gefrühstückt, Mr. Veitch?»
«Aye, Sir. «Mit einem Blick auf Herrick stotterte er:»Jemand hat mir erzählt, der Kommodore hätte wegen heute so ein Gefühl. Da habe ich sie eine Stunde früher wecken lassen.»
Bolitho rieb sich das Kinn.»Ich gehe mich jetzt rasieren und Kaffee trinken, wenn noch welcher da ist. «Die Leinen schnurrten, die Signalflaggen stiegen hoch.»Ich hoffe, die auf der Nicator schlafen nicht und geben das Signal an Javal weiter.»
Er wandte sich um und schaute nach dem schlanken Rumpf der Harrebell aus, doch sie zeigte ihnen nur das Heck und ihre gerefften Marssegel, die sich hell vom Himmel abhoben.
«Wir müssen die Schiffe möglichst vorteilhaft verteilen, Thomas. Ändern Sie gleich den Kurs auf genau Nord und segeln Sie über Steuerbordbug.»
Über die bewegte See drang das Stakkato der Trommeln an sein Ohr: Matrosen und Marine-Infanteristen des Geschwaders rannten auf Gefechtsstationen.
Herrick nickte.»Aye, Sir, das ist ratsam. Ich lasse signalisieren, sowie die Nicator das letzte Signal bestätigt hat.»
«Hat schon bestätigt, Sir!«Glassons sonst so scharfe Stimme klang gedämpft.
«Melden Sie's gefälligst sofort, Mr. Glasson«, schnauzte Veitch ihn an.»Sonst bleiben Sie für immer Stellvertretender!»
Bolitho hörte diesen Wortwechsel nicht, er dachte nach. Wie stark auseinandergezogen mochte die feindliche Flotte segeln? Hatte sie nur ein Flaggschiff oder mehrere?
«Lassen Sie die Barkasse aussetzen, Captain Herrick«, sagte er.»Sie soll die Depeschen zur Harebell bringen… Und Briefe nach England, falls jemand welche hat.»
Rufe hallten über das Deck, die Bootsmannschaft rannte nach achtern, von Yeo, dem Bootsmann, und seiner mächtigen Stimme angetrieben.
Nochmals sah Bolitho nach seinem Stander. Es war jetzt heller, doch immer noch ziemlich windstill. Auf dem neuen Kurs und Bug würden sie etwas mehr Fahrt machen, aber es konnte trotzdem noch eine Ewigkeit dauern, bis sie Feindberührung hatten.