«Da sei Gott vor«, lachte Javal.»Ich möchte noch manches Jahr in der Flotte dienen und sogar Karriere machen. Aber was hätte ich wohl für Chancen, wenn ich zuließe, daß mein Kommodore drauf-geht?«Der Gedanke schien ihn mächtig zu amüsieren.
«Da könnten Sie recht haben«, entgegnete Bolitho kurz.
Javal räusperte sich und wurde sachlicher.»Es wird gut vier Stunden dauern, bis wir mehr wissen, Sir. Mein Erster ist ein erfahrener Mann, seit achtzehn Monaten bei mir, und hat schon mehrere Fahrzeuge ohne große Verluste gekapert. «Bolitho nickte.»Ich werde Ihre Kajüte noch einmal in Anspruch nehmen, wenn ich darf. Ein kurzer Schlaf sollte mich für morgen frischer machen.»
Jetzt dachte Javal wahrscheinlich: So ein Schwindler! Bolitho konnte es beinahe hören. Schlafen? Auf dem Wasser zu wandeln, wäre ihm leichter gefallen.
Javal sah ihm nach, wie er sich zum Niedergang tastete, und zuckte die Schultern. Der Kommodore machte sich wohl Sorgen über die erste Aktion unter seinem Oberbefehl, dachte er. Es kann ihm doch nichts ausmachen, wenn zwei, drei Mann dabei fallen? Er griff nach seiner Steingutkruke und schüttelte sie am Ohr. Mit dem Genever würde die Zeit ein bißchen schneller vergehen.
Bolitho tastete sich zu dem schwach erhellten Kompaß hin und blickte auf die stark schrägliegende Windrose. Der Bug der Buz-zard zeigte genau nach Nordost. Hilfsbereit sagte der Master:»Entschuldigung, Sir, aber der Wind hat ein oder zwei Strich gedreht. Und geregnet hat's auch.»
Bolitho nickte und schritt weiter, stemmte sich gegen den Druck des feuchten Windes, der schräg von achtern kam. Die Morgendämmerung war nahe, schon konnte er die Neunpfünder auf dem Achterdeck sehen — wie schwarze Balken ragten ihre Rohre unter der Luv-Laufbrücke hervor.
Javal stand an der Achterdecksreling, ohne Hut, sein Haar peitschte im Wind.»Bis jetzt nichts Neues«, sagte er und sah Bo-litho kurz und prüfend an.»Gut geschlafen, Sir?»
Bolitho stützte sich auf die Reling und spürte, wie das Schiff unter ihm zitterte gleich einem Tier, das alle seine Kräfte anspannte. Er hätte keine Sekunde länger in der Kajüte bleiben können. Die Zeit war ihm zu einer Ewigkeit geworden und Javals Quartier zu einem feuchten, schwankenden Gefängnis.»Danke, ein bißchen wenigstens«, sagte er.
«An Deck! Land in Luv voraus!»
«Die Lotgasten wieder in die Rüsten, Mr. Ellis!«befahl Javal erregt.»Aber schnell!«Etwas ruhiger erläuterte er dann:»Das wird der eine Landarm der Bucht sein. Wir haben während der Nacht in einem Bogen vor ihm gekreuzt. Weil dieser verdammte Wind immer mehr drehte, dachte ich schon, wir würden auflaufen.»
«Aha«, sagte Bolitho. Er wandte den Kopf ab, damit Javal nicht sah, wie ihm zumute war. Wie war die Aktion gelaufen? Warum war immer noch kein Signal, kein Zeichen des Erfolgs zu sehen?
«Mears hätte wenigstens einen Schuß oder eine Rakete abfeuern können«, bemerkte Javal. Selbst er wurde anscheinend unruhig.
«Verdammt, in einer Stunde sind wir von Land aus zu sehen.»
Bolitho hörte nicht hin. Er versuchte sich vorzustellen, was jenseits dieses undeutlichen Schattens lag, den der Ausguck als Land angesprochen hatte. Wenn Leutnant Mears und seine Männer den Schoner nicht gekapert hatten oder aus irgendeinem Grunde gar nicht an ihn herangekommen waren, dann mußten sie wohl oder übel zur Buzzard zurückrudern. Bei dem steifen Wind und nach einer ganzen Nacht an den Riemen würden sie Hilfe brauchen, und zwar schnell.
Vom Vorschiff kam der Ruf:»Sieben Faden!«[8]
«Jesus«, sagte Javal leise.
Besorgt rief der Master herüber:»Es wird hier sehr schnell flach,
Sir!»
«Danke, das weiß ich auch«, antwortete Javal böse.»Achten Sie lieber aufs Ruder!»
«Fünf Faden!«sang der Lotgast aus. Es klang wie ein Grabgesang.
«Ich muß nach Steuerbord ausweichen, Sir«, murmelte Javal so widerwillig, als zöge er sich die Worte aus der Kehle.
Bolitho blickte ihn an und wurde dabei gewahr, daß Menschen und Gegenstände an Deck im ersten bleichen Morgenlicht Form und Wirklichkeit gewannen.»Tun Sie, was Sie müssen, Captain Javal«, sagte er knapp und wandte sich um. Er war genau so deprimiert wie der Kommandant.
«Vier Faden!»
Bolitho verkrampfte die Hände auf dem Rücken und schritt nach achtern. Die Fregatte segelte in nur fünfundzwanzig Fuß tiefem Wasser. Jede Minute mußte sie Grundberührung haben. Über seine Schulter sah er das Land frech und böse nach dem Bugspriet greifen.
«An die Leebrassen!«Füße trappelten über das Deck.
«Steuerbordruder!«Unter dem Quietschen der Taljen kamen die Rahen langsam und knarrend herum; die Buzzard wandte sich wieder der offenen See zu.
«Steuern Sie genau Ost«, sagte Javal rauh.»Und bleiben Sie dabei so dicht unter Land, wie Sie es riskieren können.»
«Zehn Faden!»
Bolitho beobachtete das Land, das jetzt an Backbord vorbeiglitt, und die undeutliche weiße Brandung, wo der Wind die See in Höhlen und kleine Buchten drückte.
«An Deck! Fremdes Segel in Luv voraus! Rundet die Landzunge!»
Javal atmete heftig ein.»Mr. Ellis, Backbordbatterie ausrennen!«Doch gleich darauf rief er scharf:»Befehl belegt!«Sein Gesicht leuchtete hell auf in einem roten Schein, der drüben an Land aufstieg.
«Klar zum Segelbergen!«Und zu Bolitho:»Der Schoner, bei Gott! Mears hat ihn!»
Auch ohne Glas konnte Bolitho das niedrige Fahrzeug ausmachen, das unter seinen breit ausladenden Segeln von Land freikam. Hinterm Heck unterschied er zwei dunkle Schemen: die Boote der Buzzard, im Schlepp. Am Vormast dippte eine Laterne zum Zeichen, daß die Eroberung geglückt war. Vielleicht fürchtete Mears, daß er wegen der Verspätung und weil er vorher keine Gelegenheit zum Signalisieren gehabt hatte, mit einer Breitseite statt mit Hurrarufen begrüßt werden könnte.
«Wir gehen auf den anderen Bug«, rief Javal,»mit Kurs Süd zu West, bis wir mehr Raum gewonnen haben. «Er sah zu Bolitho herüber, der bei den Netzen stand.»Sie werden möglichst rasch zum Geschwader zurückwollen, Sir?»
«Ja.»
Bolitho ging den Matrosen aus dem Weg, die zum Schrillen der Bootsmannspfeifen auf Stationen rannten. Es war vorüber, und, soweit er sagen konnte, ohne daß ein Schuß gefallen war. Er merkte, daß er innerlich zitterte, als wäre er dabeigewesen.
Als die Buzzard auf ihrem neuen Kurs stark überholte, sah Bo-litho den Schoner in ihrem Kielwasser folgen; seine Leereling berührte beinahe die Wasserlinie. Er mußte tatsächlich schwer beladen sein.
«Drehen Sie bei, sobald Sie können, Captain«, befahl er kurz.»Signalisieren Sie Ihrem Leutnant, er soll auf Rufweite herankommen.»
Javal sah ihn zweifelnd an.»Aye, Sir. Wenn Sie meinen…»
Doch nach einem raschen Blick in Bolithos Gesicht sagte er nichts weiter.
Langsam trat Bolitho wieder an die Wanten und achtete nicht auf die Vorbereitungen zum Beidrehen. Er hörte nicht einmal das Quietschen der Blöcke, als die Signalflaggen zur Rah stiegen und im Wind auswehten. Er sah nur die Boote im schäumenden Kielwasser des Schoners: Die Jolle war nicht dabei.
Leutnant Mears hatte keine Lust, seine Meldung vom Deck des gekaperten Schoners herüberzubrüllen. Er ließ sich die kurze Strek-ke bis zu der schwer im starken Seegang rollenden Buzzard im Kutter rudern, der jetzt, an den Rüsten der Fregatte festgemacht, wie ein Delphin auf und ab sprang.
In der Achterkajüte klangen die Geräusche der See gedämpft, wie das Dröhnen der Brandung in einer tiefen Grotte.
Die Hände auf dem Rücken zusammengepreßt, den Kopf unter den niedrigen Decksbalken gesenkt, hörte Bolitho zu, wie Mears, noch etwas außer Atem, seine Geschichte erzählte.