Heinz Konsalik
Eine Sünde zuviel
Kapitel 1
Die Explosion kam plötzlich.
Nichts kündete sie an, kein Zischen, kein Überdruck, kein Rumoren. Auch laut war sie nicht, keine Fensterscheibe zersprang, kein Kalk sprang von der Decke, keine Türen wurden nach außen gedrückt ... es war nur ein dumpfer Knall, gelblicher Dampf wallte auf, ein scharfer, beißender Geruch erfüllte das Labor, legte sich auf die Schleimhäute und reizte zu Husten und Würgen.
Vor ein paar Sekunden noch hatte Luise Dahlmann neben dem gläsernen Kolben gestanden und beobachtet, wie die gelbliche Flüssigkeit in ihm brodelte und der Dampf sich träge durch die Kühlschlange wälzte. Ernst Dahlmann stand einen Tisch weiter und notierte in einem Berichtsbuch den Vorgang Nr. 269.
»Wenn dieser Versuch auch mißlingt, breche ich ab!« hatte Luise gesagt. »Ich hätte nie gedacht, daß ein Wühlmäusevertilgungsmittel so blödsinnige Schwierigkeiten macht.«
Ernst Dahlmann hatte gelacht und einen Schluck Kognak genommen. »Wo bleibt dein Ehrgeiz, Luise?« Er hatte das Glas abgesetzt und in den Fingern gedreht. »Apothekerin zu sein, befriedigt mich nicht. - Erinnerst du dich an diesen Satz?! Ich habe, ehrlich gesagt, niemals den Ehrgeiz verspürt, mehr zu sein, als hinter der Theke eines gutgehenden Ladens zu stehen und mich zu freuen, wenn es eine Grippeepidemie gibt oder eine harmlose Darminfektion, bei der wir die zehnfache Tageskasse haben -«
»Das ist typisch.« Luise Dahlmann hatte gelacht. Seit vier Jahren war sie mit Ernst verheiratet, und es war eine gute Ehe. Seinen Sarkasmus und seine oft an der Grenze der Verletzung stehende Ironie hatte sie hingenommen . als sie ihn bei einem Apothekerball kennenlernte, fand sie es charmant, später sah sie, daß es ein Teil seines Wesens war. Er sah seine Umwelt durch die Brille des mitleidlosen Kritikers, er entzauberte das Menschsein, analysierte es und setzte es dann nach seiner Logik wieder zusammen . und immer kam eines dabei heraus: das Absurde.
Wer die Dahlmanns sah, beneidete sie. Eine große, alte, über 300 Jahre bestehende Apotheke - die Mohren-Apotheke -, modernisiert und mit einem großen Labor in einem Anbau, ein Reichtum, der über alle Generationen vererbt wurde und Kriege und Krisen überdauert hatte, ein schönes, glückliches Leben an der Grenze von Jugend und Reife ... kurzum zwei Menschen, von denen man sagte, daß sie füreinander geschaffen waren und die beneidet werden durften.
Luise Dahlmann hatte an diesem Abend den 269. Versuch begonnen, den letzten, wie sie sagte. Bisher hatte das Labor der Moh-ren-Apotheke schon zwei große Verkaufserfolge herausgebracht ... das Schmerzmittel Dahlomed und das Schlafmittel Dahlosan ... ein Abführmittel mit dem Namen Dahlaxan war gerade neu vorgestellt worden und schien ebenfalls ein Schlager zu werden. Es wäre auch bei diesen pharmazeutischen Präparaten geblieben, wenn Ernst Dahlmann nicht eines Tages wütend in die Wohnung gekommen wäre und gerufen hätte: »Es macht bald keine Freude mehr ... der schöne Rasen, die Rosen, die Stauden um das Beet ... alles von Wühlmäusen untergraben und zerfressen! Und dieses Pulver, das ich da in die Gänge geschüttet habe ... das scheint ein Hormonpräparat für Mäuse zu sein ... sie sind doppelt aktiv geworden!«
»Gut! Machen wir es selbst!« hatte Luise gesagt. »Mit einem Mittel gegen Wühlmäuse kann man auch viel Geld verdienen -«
Ein halbes Jahr hatten sie experimentiert, hatten andere Präparate analysiert, hatten Fachliteratur studiert, hatten Kladden mit Berechnungen und chemischen Formeln gefüllt, bis sie in ihrer langen Versuchsreihe die Zahl 269 erreichten.
»Die Mäuse leben weiter!« Das war seit Monaten die sarkastische Bemerkung Ernst Dahlmanns. »Vom Versuchspräparat Nr. 174 scheinen sie potenter geworden zu sein ... sie vermehren sich wie die Flöhe -«
An diesem Abend war man sich einig geworden: Noch diese Destillation - und dann ist Schluß!
»Geh nicht zu nahe an den Kolben, Luiserl -«, hatte Dahlmann gesagt. Manchmal beliebte er wienerisch zu sprechen. »Mein Großvater war k.u.k. Offizier -« Das war der Beginn einer Geschichte, die er gern in der Gesellschaft erzählte und die immer damit endete, daß er feststellte: »Schaun's mich an, meine Damen ... das Fesche hab ich von meinem seligen Großpapa -«
Auch das kannte Luise seit Jahren, sie lächelte darüber und beobachtete mit etwas Wehmut, wie die Blicke der Damen glänzend und manchmal schmachtend auf Ernst Dahlmann ruhten. Seine schwarzmelierten Haare glänzten unter den Lampen, sein weißes Hemd leuchtete, der einfarbige Schlips darauf paßte genau zur Farbe des Anzuges und setzte sich fort im Ziertuch und in der Farbe der Socken. Elegant und sich seiner Wirkung bewußt, saß er lässig im Sessel, drehte spielerisch seinen Trauring am Finger, plauderte, lachte, machte Komplimente und spielte den bewußten Gentleman mit einem Hauch von Traurigkeit und Weltschmerz, der jedes Frauenherz erobert.
An eine solche Situation mußte sie denken, als sie seine Warnung hörte und das Wort Luiserl. Sie lachte vor sich hin, bog den Kopf zurück, blickte um einen gläsernen Aufbau herum und schüttelte den Kopf.
»Der Säuredampf hat ja gar keinen Druck -«, sagte sie. »Und in der Schlange wird er ja sofort abgekühlt. Komm, schütt mir auch ein Glas ein und bring es mir. Wenn's auch diesmal schiefgeht, brauch ich einen Kognak-«
In diesem Augenblick - als sie den Kopf wieder nach vorne nahm und auf den Glaskolben blickte - geschah die Explosion.
Der Kolben zersprang einfach, ohne ersichtlichen Grund. Der heiße, gelbliche Dampf zischte gegen die Decke und umhüllte in Sekundenschnelle den Kopf Luise Dahlmanns. Gleichzeitig mit dem Dampf spritzte die kochende Säuremischung aus dem Kolben, halb flüssig, halb schon verdampft, ein heißer Regen aus einem schwefeligen Nebel.
Ernst Dahlmann war aufgesprungen und rannte um seinen Labortisch herum zu Luise.
»Luiserl!« schrie er dabei. »Luiserl? Was ist denn? Bist du verletzt. Luiserl -«
Luise Dahlmann hatte den dumpfen Knall gar nicht gehört. Sie hatte plötzlich nur den dampfenden Nebel vor sich gesehen, den heißen Regen gespürt, die Tropfen, die über ihr Gesicht sprühten, in die Augen drangen. Tropfen, die nicht nur glühten, sondern wie flüssiger Höllenstein brannten.
»Meine Augen!« dachte sie nur. »Mein Gott - meine Augen -«
Sie schlug die Hände vors Gesicht, warf den Kopf zurück, aber schon, als sie ihre nasse Haut fühlte, wußte sie, daß es zu spät war. Ernst Dahlmann riß sie aus dem gelben Dampf und schleuderte sie fast in die Mitte des Labors hinein . dann rannte er zu den großen Fenstern, stieß die Flügel auf und stürzte zu Luise zurück, die verkrümmt an einem der langen Tische lehnte und noch immer ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt.
»Luiserl.«, stammelte Dahlmann. »Sag ... hast du dich verletzt -« Er wagte nicht, sie zu berühren, ihr die Hände vom Gesicht zu ziehen . er sah es schon am Hals, was ihn erwartete. Dort waren einige Spritzer hingekommen, und die Haut war rot geworden, aufgequollen, verätzt.
Nach diesen ersten Sekunden des Schreckens und Entsetzens handelten sie, wie sie es hundertmal gehört hatten und auch immer wieder den Kunden rieten: Kein Wasser auf die Verätzungen, sondern zunächst bloßes Abtupfen der Säure mit Zellstoff. Und dann einen Arzt . sofort einen Arzt.
Ernst Dahlmann atmete schwer, als er das Gesicht seiner Frau sah. Ein großer roter, aufgequollener Fleck Fleisch, in dem Nase und Mund verschwanden. Unter der Stirn die Augenbrauen, deren Haare sich bei der Berührung lösten wie abgebrannter Zunder. Die Augenlider waren ebenfalls verätzt, unter den Wimpern liefen die Tränen heraus, kleine Bäche, die sich einen Weg durch die zerstörte Haut suchten. Jetzt kam auch der Schmerz ... der Kopf brannte, als läge er in einem offenen Feuer, er glühte und kochte das Gehirn.
Luise Dahlmann bäumte sich hoch und schrie. Es war ein greller, ins Mark dringender Schrei, ein Aufbrüllen, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Sie umklammerte ihren Kopf und stampfte mit beiden Beinen in unerträglichem Schmerz auf den Boden.