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Es ist eine Absage, dachte sie und lehnte sich an den Türrahmen. Für eine Zusage braucht man keine fünf Zeilen. Es war, als zerbräche etwas in ihr. Eine lähmende Schwäche kroch in ihr hoch und legte sich auf das Herz. Das Atmen wurde schwer, die Kehle trocknete aus, sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Mit letzter Kraft hob sie den Arm und hielt das Papier dem Mädchen entgegen.

»Bitte, lesen Sie mir das Telegramm vor -«, sagte sie tonlos. »Es ist doch aus Bologna, nicht wahr ... von einem Professor Siri -?«

Das Zimmermädchen sah auf das Formular und nickte.

»Ja«, sagte es.

»Bitte lesen Sie.«

Das Zimmermädchen überflog den Text. Er war in deutscher Sprache, und das deutsche Sprechen fiel ihm leichter als das Lesen. Dann las es laut vor:

»Untersuchung am 23. möglich stop prof, siri erwartet sie gegen elf uhr stop es ist mit einem klinikaufenthalt von mindestens drei wochen zu rechnen stop erwarten nachricht ob termin angenehm stop

clinica st. anna, bologna«

Luise wandte den Kopf ab und trat einen Schritt hinaus auf den Balkon. Über ihr Gesicht zuckte es. Es kostete sie Mühe, aufrecht zu stehen und nicht mit einem Schrei die Arme hoch emporzuwerfen und vor Glück und Befreiung zu weinen.

»Wann ... wann ist der 23.?« fragte sie leise.

»In drei Tagen, Madame.«

»Danke.«

Das Zimmermädchen legte das Telegramm auf das silberne Tablett zurück.

»Kann ich gehen, Madame?«

»Ja. Und haben Sie herzlichen Dank.«

»O bitte, Madame.«

Als Fräulein Pleschke vom Zeitungskauf zurückkam und empört berichtete, daß ein junger Mann, sicherlich ein Italiener, sie auf der Promenade mit den Worten angesprochen habe: »Hallo, signorina ... amore gutt?«, hatte sich Luise schon so weit beruhigt, daß sie den Plan, den sie in all den Tagen immer wieder durchdacht hatte, Schritt für Schritt durchzuführen bereit war.

»Wir werden verreisen, Erna«, sagte Luise in den Wortschwall Fräulein Pleschkes hinein.

»Verreisen?«

»Nach Bologna.«

»Nach Italien? Ich habe im Augenblick gerade genug von den Italienern.«

»Lesen Sie bitte das Telegramm. Es muß dort auf dem Tisch liegen -«

Fräulein Pleschke las die Nachricht aus Bologna und sah Luise Dahlmann erschrocken an.

»Soll das heißen, daß Sie sich wieder operieren lassen?« fragte sie fast entsetzt.

»Ja.«

»Heimlich?«

»Ja. Darum haben wir jetzt viel zu besprechen, Erna. Ich muß Sie zu meiner Mitverschworenen machen. Sie wissen, daß mein Mann keine neue Operation mehr will, um mir die Belastung zwischen Hoffnung und Mißlingen zu ersparen. Darum will ich jetzt allein die letzte Möglichkeit versuchen, aber wirklich die letzte. Noch einmal, das weiß ich, halte ich es nicht aus. Professor Siri in Bologna ist meine letzte Station. Mißlingt die Operation auch, so soll mein Mann nie davon erfahren ... gelingt sie, so soll es die große Überraschung werden. Sie müssen ab sofort über alles schweigen, Sie müssen mitspielen, Erna -«

»Ja -«, sagte Fräulein Pleschke leise und erschüttert. »Aber Ihr Mann wird doch wissen wollen, wie es Ihnen hier in Montreux geht, und ich -«

»Sie werden mich nach Bologna bringen und dann zurückfahren nach Montreux. Jeden dritten Tag schicken Sie ein Tonband ab. Ich werde sie vorsprechen und Sie werden sie unauffällig numerieren, damit sie nicht durcheinanderkommen. Die Tonbänder meines Mannes schicken Sie mir weiter nach Bologna.«

»Und wenn er anruft?«

»Das hat er noch nie getan. In dieser Hinsicht ist er sparsam. Was er wissen will, hört er ja vom Band. Und wenn er wirklich anruft ... ich bin beim Friseur oder beim Arzt ... es wird Ihnen schon etwas einfallen.« Luise griff nach Erna Pleschkes Hand und hielt sie fest. »Wir sind jetzt zwei Verschwörer, Erna.«, sagte sie eindringlich. »Und ich bin auf Ihr Schweigen angewiesen, auf Ihr Mitspielen -«

Fräulein Pleschke legte die andere Hand beruhigend auf die bebenden Finger Luises. »Sie wissen -«, sagte sie mit zitternder Stimme, »daß ich alles für Sie tue. Ich - ich habe solche Angst, daß es wieder vergeblich sein könnte.«

»Daran wollen wir nicht denken, Erna. In drei Tagen müssen wir in Bologna sein . bis dahin haben wir noch viel zu tun . wir müssen mindestens vier Wochen vorarbeiten.«

Kapitel 12

Die Klinik Professor Siris lag außerhalb Bolognas in einem Pinienwald, umgeben von einer hohen Mauer, als sei sie ein Gefängnis oder eine geschlossene Anstalt. Aber dieser erste Eindruck verwischte sich, wenn man durch das breite, schmiedeeiserne Tor rollte und nach einer Biegung der Auffahrt plötzlich vor einem der wundersamen, weißen Paläste stand, wie sie nur die Italiener der Renaissance zu bauen verstanden.

Von diesem Palazzo erzählte man sich in der medizinischen Welt Wunderdinge. Hier, in der Abgeschiedenheit, umgeben von herrlichen Parkanlagen und Wasserspielen, in einem Operationssaal, dessen Boden aus kunstvollem, geschliffenem Marmor bestand und eine Dionysosszene darstellte, vollbrachte Professor Dr. Battista Siri Operationen, die man in Fachkreisen zunächst ungläubig und dann sprachlos aufnahm. »Siri ist entweder ein Verrückter, der bisher unverschämtes Glück gehabt hat . oder ein Genie, wie es alle hundert Jahre einmal geboren wird«, sagte einmal ein Kollege von ihm, als er einen Operationsbericht aus der Bologneser Klinik Santa Anna las. Und Siri, dem man diesen Ausruf zutrug, antwortete prompt: »Nehmen Sie an, ich sei bloß ein Verrückter!«

In seiner Klinik war er ein König, ein uneingeschränkter Souverän. Wenn er mit seiner weißen Haarmähne, mit hin und her pendelnden Armen, schnellen, kleinen Schritten und einem zu kurzen Arztkittel durch seinen Palazzo rannte, von Zimmer zu Zimmer, überall Aufregung verbreitend, weil er in jedem Zimmer immer etwas fand, was nach seiner Ansicht nicht richtig war, dann war es wirklich wie in der Renaissance, wo ein scharfer Blick des Fürsten gleichbedeutend mit einer Hinrichtung war.

Diese Chefvisiten, jeden Tag einmal gegen elf Uhr vormittags, gehörten zu den Alpträumen der Ärzte und Schwestern. Aber so sehr und so oft sie auch angebrüllt wurden und sich in den südländischen Schimpfworten einrollen konnten, bisher hatte keiner der Ärzte und Schwestern freiwillig die Clfnica St. Anna verlassen, es sei denn, Professor Siri hatte jemanden einfach hinausgeworfen. Wer bei Siri arbeitete, lebte mitten in einem Mekka der Medizin. Er schluckte alles, was man ihm an den Kopf warf, denn was man später am OP-Tisch erlebte, ließ alles vergessen. Bremsbock aller Meinungen und Wünsche war dabei Dr. Giulio Saviano, der Oberarzt Siris, ein kleiner, temperamentvoller, ungemein begabter Süditaliener, der vor Tatendrang sprühte und als einziger es wagte, zu Siri zu sagen: »Professore ... wenn ich eine Meinung haben dürfte.« Und ab und zu durfte er sogar.

Luise Dahlmann war eine Stunde vor der festgesetzten Zeit in der Clfnica St. Anna. Weder Dr. Saviano und erst recht nicht Professor Siri waren zu sprechen . ein junger Assistenzarzt lotste sie durch den Palazzo bis zur Augenstation II, wo eine hübsche, schwarzgelockte Schwester auf sie zukam, ein süßes Bild in Weiß.

»Das ist Schwester Angelina.«, sagte der junge Arzt in einem holprigen Deutsch. »Buon giorno, signora.«

»Kommen Sie, signora.« Schwester Angelina nickte Fräulein Plesch-ke zu und faßte Luise unter. »Wir haben Sie erwartet. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer. Der Herr Professor wird nach der Visite mit Ihnen sprechen.«

Luise blieb stehen. Der typische Geruch eines Krankenhauses fehlte völlig ... im Gegenteil, es roch nach Blumen, nach Mimosen, Kamelien, Rosen.

»Sie muß schön sein, diese Klinik«, sagte sie und drehte den Kopf, als könne sie alles sehen ... die breiten Flurfenster, den Park, die Wasserspiele, den wolkenlosen, blauen, vor Sonne kochenden Himmel.