»Was jetzt kommt, ist wieder etwas Neues«, sagte Professor Siri ruhig. »Bisher wurden die Wunden der Hornhaut und der Skiera mit Seidenfäden oder mit Perlon vernäht. Aber Seide ist wasser- und luftdurchlässig, es kam immer wieder zu postoperativen Komplikationen, zu Infektionen vor allem, die alle Hoffnungen zerstörten. Ich benutze jetzt Metallklammern. Klammern aus Tantal. Wenn Sie das Instrument sehen könnten . wie eine kleine Pistole sieht es aus. Mit ihr mache ich jetzt eine feine, dichte Naht, die zudem noch den Vorteil hat, in keiner Weise die Augenhaut zu reizen. Feuer frei -«
Die Naht mit der neuen Maschine ging schnell. Dann klappte Siri den als Transplantatschutz gedachten Bindehautstreifen über die Operationsstelle.
In diesem Augenblick lief ein heftiges Zucken durch den Körper Luises. Ihr Kopf hob sich, obgleich Dr. Saviano und die OP-Schwe-ster ihn umklammerten, die Beine und Arme zerrten in den Riemen. Dann brach es aus ihr heraus, ein heller Schrei, den auch die Abdecktücher nicht erstickten.
»Ich sehe Licht!« schrie sie. »Ich sehe Licht . Licht.«
Dann streckte sich der Körper mit einem lauten Seufzer. Luise Dahlmann sank in eine Ohnmacht.
Professor Siri deckte beide Augen ab und verband sie. Dr. Saviano injizierte bereits Cardiazol, um den Kreislaufschock aufzufangen.
Siri sah auf die Uhr über den Instrumentenschränken.
»Acht Uhr dreiundvierzig«, sagte er. »Sie sieht wieder Licht. Giu-lio, es scheint gelungen zu sein -«
»Gratuliere, professore -«, sagte Dr. Saviano jungenhaft. »Gratuliere!« Professor Siri stieg von seinem Zweistufenpodest hinab und öffnete den Kittel. Es war heiß im OP, draußen brannte die Sonne gegen die Scheiben. Die Operation war vorbei . aus dem feinnervigen Chirurgen wurde wieder der kleine Tyrann. »Als wenn das nicht selbstverständlich wäre! Die Visite fällt heute nicht aus! Und signora Dahlmann geben Sie ein Schlafmittel und kontrollieren ständig den Kreislauf. Gratuliere -« Siri schüttelte den weißmähnigen Kopf. »So was muß man sich sagen lassen -«
Mit schnellen Schritten rannte er aus dem OP. Dr. Saviano lächelte der OP-Schwester zu. Er war durchaus nicht betroffen.
»Der Chef ist selbst glücklich«, sagte er fröhlich. »Und in vierzehn Tagen wissen wir genau, ob die Hornhaut eingeheilt ist und sie für immer sehen kann -«
Mit einem weißen Laken zugedeckt, wurde Luise Dahlmann zurück in ihr Zimmer gerollt. Schwester Angelina wartete schon auf sie.
Kapitel 13
Vierundzwanzig Stunden sind keine lange Zeit. Im Alltag fliegen sie dahin . wenn man sie warten muß, werden sie lang, aber immer noch erträglich. Zur Ewigkeit werden sie, wenn man mit einer Binde über den Augen in einem Bett liegt und weiß, daß nach diesen vierundzwanzig Stunden die Binde fällt und es sich entscheidet, ob der erste Lichtstrahl wieder sichtbar ist, ob ein Gegenstand sich aus dem Licht schält, ob man erkennt und begreift, ob die Welt neu geboren wird -
Luise lag nach dem Erwachen still und mit gefalteten Händen auf dem Rücken. Wie lange sie geschlafen hatte, war nicht abschätzbar, bis Schwester Angelina das Essen brachte.
»Was gibt es heute mittag?« fragte Luise. Schwester Angelina tappte in die Falle.
»Das Abendessen besteht aus gefüllten Artischoken, signora«, sagte sie. »Dazu Cassata mit Sahne -«
Es war also Abend. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen. Nun lag noch eine Nacht vor ihr ... zwölf Stunden Warten auf den Morgen, auf die Sonne, die Professor Siri ihr versprochen hatte und von der sie einen Schimmer gesehen hatte, nur einen einzigen Strahl, bis sie das schreckliche Gefühl empfand, ihr Herz bräche auseinander. Dann war wieder die Nacht gekommen. Das wohltätige Vergessen.
Ein ungeheurer, unbezähmbarer Drang überfiel sie, die Binde von den Augen zu nehmen oder sie nur ein klein wenig zu verschieben. Es war so einfach ... man brauchte nur die Hand zu heben, ein kleiner Ruck ... und man wußte, ob das Licht zurückgekehrt war oder die ewige Nacht bleiben würde.
Schwester Angelina ahnte diese Gedanken. »Tun Sie es nicht, signora«, sagte sie wie tröstend. »Ich weiß, wie schwer es ist, jetzt noch zu warten ... bei allen war es so, die der Professor operiert hat. Aber sie alle waren nachher doch stark genug ... bis auf zwei. Und beide verloren ihr Augenlicht wieder ... da wurde der eine wahnsinnig, und der andere warf sich vor ein Auto.«
»Ich will ganz brav sein, Schwester«, sagte Luise wie ein getadeltes Kind. »Ich verspreche, nicht an der Binde zu rücken.«
Nach dem Essen bekam sie wieder eine Injektion. Sie schlief danach ein, auch wenn sie sich dagegenstemmte. Das Medikament war stärker als ihr Wille.
Sie erwachte und wußte plötzlich, daß es heller Tag war. Irgendwo spielte wieder das Radio, Schwester Angelina war im Zimmer und goß die Blumen. Luise hörte das Plätschern des Wassers aus der Gießkanne.
»Zweimal war Dr. Saviano schon da«, sagte Schwester Angelina und setzte sich auf Luises Bett. »Aber ich sollte Sie schlafen lassen, sagte er. Und ich werde ihn auch erst anrufen, wenn Sie gefrühstückt haben -«
Es war schon zehn Uhr, als Luise Dahlmann in das Arbeitszimmer Professor Siris geführt wurde. Siri saß wieder zwischen seinen Apparaten auf dem alten Stuhl, nur waren diesmal dicke Vorhänge vor den Fenstern und verhüllten den grellen Sonnentag. Dr. Saviano drückte Luise in einen Sessel und stellte sich hinter sie. Siri beugte sich vor und ergriff ihre Hände; sie waren kalt, als hätten sie auf Eis gelegen.
»Keine Angst haben, signora.«, sagte er gütig. »Ich will Ihnen sagen, was Sie gleich sehen -«
»Sehen -«, stammelte Luise.
»Sie werden nichts sehen -«
»Nichts.?«
»Keine Gegenstände. Nur Licht. Aber wenn Sie Licht sehen, wissen wir, daß alles gut geworden ist. Über Ihrer neuen Hornhaut, dem Fenster, das wir eingesetzt haben, liegt eine Bindehaut, die wir als Schutz über das Transplantat zogen. Es verschleiert noch das Bild Ihrer Umwelt. Jeden Tag werden wir jetzt Antibiotika aufträufeln, am achten Tag entfernen wir die Bindehautklappe, dann wird es wieder vierundzwanzig Stunden Nacht um Sie sein, denn so lange lassen wir das Auge wieder verbunden . und erst dann werden Sie Ihre Umwelt erkennen können. Richtig wissen, ob alles gelungen ist, ob die Hornhaut wirklich klar bleibt . das wird erst in neun Monaten sein. In dieser Zeit müssen wir gegen mögliche Entzündungen ankämpfen, mit Cortison, das wir erst aufträufeln und später direkt in die Bindehaut injizieren. Ja, und was ich noch sagen wollte: Übermorgen machen wir das gleiche mit dem anderen Auge . auch wenn Sie aus dem germanischen Deutschland kommen, lasse ich Sie nicht mit einem Auge wie Wotan herumlaufen -«
Siri rückte den Stuhl heran, Dr. Saviano löste die Binde, drückte sie aber noch gegen die Augen Luises.
»Schließen Sie bitte die Lider«, sagte Siri ruhig. »Und öffnen Sie sie erst, wenn ich es sage.«
Luise nickte schwach. In diesem Augenblick fiel die Binde. Ein Zittern lief durch ihren Körper, eine panische Angst, gleich die Augen öffnen zu müssen und nichts zu sehen. Professor Siri streichelte ihre eiskalten Hände.
»Ruhe, signora, seien Sie völlig ruhig.« Seine Stimme hatte etwas Suggestives, »öffnen Sie ganz langsam die Augen ... ganz langsam.«
Luise Dahlmann hob die Lider. Als sie sie halb geöffnet hatte, durchzuckte es sie wie ein Schlag.
»Licht -«, stammelte sie. »Licht, Herr Professor . aber dumpf. ganz dumpf..«
»Die Vorhänge sind zugezogen. Wir sitzen in einem halbdunklen Zimmer. Sie sehen nur einen Schimmer von Licht -«
»Ja.«
»Und jetzt?«
Dr. Saviano hatte einen Vorhang um einen Spalt geöffnet. Wie hineingeschossen fiel ein Sonnenstrahl ins Zimmer.