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»Oh!« schrie sie hell. »Oh ... ich verbrenne ... ich verbrenne ... meine Augen ... meine Augen.«

Ernst Dahlmann rannte in die Apotheke. Es war ein Abend, an dem er keine Nachtbereitschaft hatte. Mit fliegenden Händen suchte er eine sterile Spritze, brach eine Schachtel mit Morphinampullen auf und rannte zurück zum Labor. Mein Gott, wenn bloß jemand hier wäre, dachte er. Immer ist jemand in der Apotheke, gestern war Dienst, morgen ist wieder Bereitschaft . und gerade heute, heute, wo wir allein sind.

Luise stand noch immer zusammengekrümmt an dem langen Labortisch, den Kopf zwischen den Händen. Als Dahlmann sie anrührte, war sie wie versteint. Der wahnsinnige, brennende Schmerz schien sie zur erstarrten Schlacke gemacht zu haben.

»Komm -«, sagte er heiser. »Komm, kannst du gehen?«

Er führte sie aus dem Labor zu einem kleinen Nebenraum, der als Wohnzimmer eingerichtet war. Dort legte er sie auf ein altes Sofa, knöpfte den weißen Kittel auf, schob den Rock hoch und gab ihr die Morphininjektion in den Oberschenkel. Als er wieder ihr Gesicht sah, rot und aufgequollen, dieses schöne, schmale Gesicht mit den großen, sprechenden braunen Augen, die jetzt irgendwie glanzlos, stumpf und ohne Leben in den verätzten Höhlen lagen, krampf-te sich ihm die Kehle zusammen. Er war kaum der Sprache mächtig, als er den Hausarzt Dr. Ronnefeld anrief.

»Bitte, kommen Sie.«, stammelte er. »Sofort . bitte sofort . eine Explosion. Säure in die Augen. Es . es ist furchtbar -«

Dann saß er neben seiner Frau, hielt ihre zitternde Hand und wartete, bis das Morphium wirkte und sie wegsank in eine ruhige, schmerzlose, leichte Welt des Traumes.

Nach dem ersten Schreck überkam ihn jetzt eine unheimliche Ruhe, ja fast eine Gelassenheit. Er erhob sich vom Sofa, trat ans Fenster, zündete sich eine Zigarette an und starrte hinaus in die Nacht. Ein kleiner Hinterhof lag vor ihm, Mülltonnen im Mondlicht, eine Tep-pichstange, ein Wäschetrockner, ein Kinderdreirad . Romantik der Großstadt.

So plötzlich, dachte er. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich hatte mich auf einen langen Weg vorbereitet, und nun kommt mir das Schicksal mit offenen Armen entgegen.

Er öffnete das Fenster und atmete tief die feuchtkühle Frühlingsluft. Fünf Jahre zurück . ein Faschingsball der Apotheker, etwas Außergewöhnliches in Hannover, das durchaus nicht zu den Karnevalshochburgen Deutschlands gehört. Aber die Berufsstände veranstalten ihre internen Bälle, und man ist fröhlich unter sich. Er stand im Kostüm eines Mexikaners an der Säule, der die Empore stützte, als ein Mädchen vorbeiging . schlank, hochbeinig, mit langen blonden Haaren. Ihr enger Matrosenpullover verwirrte ihn einen Augenblick, dann zog es ihn weg wie mit hundert Magneten. Er folgte ihr, sprach sie an und tanzte mit ihr.

Dabei erfuhr er, daß sie Monika Horten hieß, Tochter des Apothekers Horten der berühmten Mohren-Apotheke war und noch eine Schwester habe, die ebenfalls Apothekerin sei. Sie selbst studierte Modezeichnen und Gebrauchsgraphik.

An diesem Abend kam sich Ernst Dahlmann klein und häßlich vor. Er wurde dem großen Apotheker Horten vorgestellt, und er merkte, auch wenn es der alte Horten geschickt überspielte, daß er eine Null in seinen Augen war. Ein Provisor! Ein Kollege zwar, aber ein kleiner, weißer Kittel, der hinter der Theke stand und »Guten Tag, gnädige Frau«, »Bitte schön - 3,75 DM, gnädige Frau« und »Ich danke schön, gnädige Frau« sagte und im übrigen nicht einmal den Schlüssel zum Giftschrank besaß, denn den verwahrte der erste Provisor in der Tasche seines Kittels.

Ein Jahr später, mit der Zähigkeit eines unglücklich Liebenden und dem Charme eines Mannes, der weiß, wie er auf Frauen wirkt, heiratete er nicht Monika Horten, sondern ihre Schwester Luise, die Apothekerin ... die >Dame< der Familie, wie der alte Horten einmal sagte. Monika nannte er das >Biest<, nicht schimpfend, sondern fast resignierend. Es wurde eine gute, aber ruhige Ehe. Was Ernst Dahlmann gehofft hatte, über den Umweg Luise an Monika heranzukommen, scheiterte nach dem Examen der Graphikerin ... sie zog nach Hamburg und wurde Zeichnerin einer großen Werbeagentur.

Ernst Dahlmann warf den Rest der Zigarette in den kleinen Hof und wandte sich zu Luise um. Sie lag auf dem Rücken, das zerstörte Gesicht im Morphiumrausch gelöst, entspannt und deshalb noch grauenhafter in seiner Auflösung.

Jetzt werde ich Monika kommen lassen, dachte er. Einen Rest von Scham fegte er weg, indem er sich wieder abwandte und hinaus in die Nacht sah. Welche Entwicklung, dachte er wieder. Vor einem Jahr starb der alte Horten, Luise erbte die Apotheke, und das erste, was sie tat, war, ihm das Schlüsselbund ihres Vaters zu übergeben mit den Worten: »Nimm es ... du bist der Mann! Alles in unserem Leben soll gemeinsam sein.« So wurde er äußerlich der alleinige Herr der Mohren-Apotheke, aber nur äußerlich. Ein Rest blieb, der ihn Tag um Tag beleidigte und seinen unbändigen Stolz trat: das Gefühl der Abhängigkeit ... das Wissen, etwas zu sein aus der Gnade und der schenkenden Geste seiner Frau.

Nun war Luises Gesicht zerstört ... und er ahnte, daß auch die Augen erblindet waren. Im Bruchteil einer Sekunde war aus einem lebensfrohen, sorglosen dreißigjährigen Menschen ein Wrack geworden, eine blinde, hilflose Kreatur, der für immer die Sonne gestorben war, der Himmel mit den ziehenden Wolken, die blühende Frühlingswiese, der Anblick eines Gemäldes, der Blick über die bewegte Weite des Meeres oder das Wiegen reifen, goldgelben Kornes im Sommerwind. Ein Mensch in ewiger Nacht, nur hörend und tastend, eine neue Welt, zusammengeschrumpft zur Griffweite der Arme.

Die Sirene eines Krankenwagens riß Ernst Dahlmann aus seinen Gedanken. Er rannte durch das Labor zur Tür und wartete unter einem Vordach, bis Dr. Ronnefeld aus dem Wagen sprang und auf ihn zulief. Keuchend betraten sie die Apotheke, während die Krankenträger den Wagen aufklappten und die Trage herausschoben.

»Was ist denn los, Menschenskind?« Dr. Ronnefeld wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was sagten Sie denn da am Telefon?! Wo liegt sie denn? Ist - ist es wirklich so schlimm?«

»Ich fürchte ja, Doktor.«

»Die Augen -«

»Ja.«

»Und sonst?«

»Das ganze Gesicht ... bis zum Hals.«

»Wie ist das denn gekommen? Wie kann denn so'n Ding explodieren? Wo liegt sie denn?«

»Hinten, im kleinen Zimmer. Ich habe ihr eine Morphininjektion gegeben . die Schmerzen waren unerträglich.«

Dr. Ronnefeld brauchte seine ganze Kraft zur Beherrschung, als er Luise Dahlmann sah. Schon als junger Arzt hatte er im Hause Horten verkehrt, er hatte die Geschwister aufwachsen sehen und hatte die kleinen Krankheiten behandelt, obwohl der alte Horten selbst wußte, welche Medikamente man zu nehmen hatte. »Sie sollen sich ab und zu auch ein Kotelett gönnen«, hatte er zu dem jungen Dr. Ronnefeld gesagt. »Später, wenn Ihre Praxis groß genug ist, hol ich's mir wieder ... in Form von Rotwein, verstanden.?« So war Dr. Ronnefeld mit dem Hause Horten verwachsen wie ein Bruder. Und so stand er stumm vor Erschütterung vor diesem zerstörten Gesicht, hob vorsichtig die Lider und sah entsetzt auf die trüben, blinden Augen.

»Sofort in die Augenklinik . was soll ich hier noch helfen? Wir können nur darum beten, daß der Sehnerv nicht zerstört ist. Wann ist es denn geschehen?«

»Ich habe sofort angerufen, Doktor.« Dahlmann setzte sich auf das Sofa und nahm die schlaffe Hand Luises in die seine. »Nach dem ersten Entsetzen -«

»Also vor etwa zehn Minuten -«

»So ungefähr.«

Die Krankenträger schnallten Luise Dahlmann auf die Trage, deckten drei weiße Decken über Körper und Gesicht und trugen sie schnell zum Wagen. Mit Blaulicht und Sirene raste er dann durch die schlafende Stadt, dem großen Komplex der Städtischen Krankenanstalten entgegen.