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»Nun gehört die Welt wieder Ihnen, signora«, sagte Professor Siri etwas heiser. »Sie können zurück ins Leben -«

Luise senkte den Kopf. Sie drückte die Rose an sich, auf ihre vom ungewohnten Licht tränenden und brennenden Augen.

»Die Welt ist wunderbar -«, sagte sie ergriffen. »Die ganze Welt ist ein Wunder -«

Noch eine Woche mußte Luise Dahlmann in der Clfnica St. Anna bleiben, um die Nachbehandlung nicht zu unterbrechen. Für Dr. Ronnefeld arbeitete Dr. Saviano einen genauen Behandlungsplan aus, ebenfalls eine Untersuchungstabelle für die Klinik in Münster, in der sich Luise nach neun Monaten noch einmal genau untersuchen lassen mußte.

Professor Siri hatte sich verabschiedet und war verreist. Er war nach San Franzisko geflogen, wo er auf einem Kongreß für moderne Chirurgie sprechen sollte. Außerdem wollte er die berühmte New Yorker >Augenbank< besuchen, jenes Mekka der Blinden, das am 1. Mai 1945 gegründet wurde und heute neben über fünfzehntausend gelungenen Operationen über eine Zentralaugenklinik verfügt, an der die besten Augenärzte der USA mit der Transplantationstechnik und den Forschungen zur Konservierbarkeit des menschlichen Auges vertraut gemacht werden. Hier wollte Professor Siri seinen großen Kollegen Dr. R. Townley Patton treffen und seine Tantalnaht vorführen.

Es war gegen Mittag, kurz vor dem Essen, als Luise Dahlmann durch den Palazzo ging und Dr. Saviano suchte. Sie hatte eine Dummheit begangen und sich nicht an die Verordnung gehalten, zunächst nur im Schatten spazierenzugehen. Nun tränten die Augen, und Luise wurde von einer panischen Angst erfaßt. Sie drückte ihr Taschentuch gegen die zuckenden Augen und rannte zum Zimmer Professor Siris, nachdem sie Dr. Saviano nicht in seinen Räumen gefunden hatte. Es war möglich, daß er im Chefzimmer saß, nachdem er die Leitung der Clfnica in Abwesenheit Siris übernommen hatte.

Aber auch das Zimmer Siris war leer. Ratlos stand sie vor dem Schreibtisch und starrte auf die geöffnete Post und die Papiere, die die Tischplatte bedeckten. Plötzlich stutzte sie. Unter einigen anderen Briefen sah der Kopf eines Bogens hervor, auf dem sie deutlich den Namen Robert Sanden lesen konnte.

Sie trat näher heran, beugte sich über die Briefe ... >Robert Sanden, Hannover, Kirchheller Weg 12<. Ein Brief mit dem Datum von vorgestern. Ein Brief, der mit der Morgenpost gekommen war.

Herrn Professor Dr. Siri . las sie noch, dann deckten die anderen Briefe die Schreibmaschinenzeilen zu. Sie zögerte, aber es war nur eine kurze Gegenwehr gegen ihre Neugier. Dann zog sie den Brief unter dem Stapel hervor und las.

»Sehr verehrter Herr Professor Siri, ich habe aus Montreux erfahren, daß Frau Luise Dahlmann von Ihnen untersucht worden ist und daß Sie sich zu einer Operation entschlossen haben. Darf ich fragen, ob diese Operation erfolgreich verlaufen ist? Wie Sie sich sicherlich erinnern können, war ich es, der sich damals an Sie mit der Bitte gewandt hatte, Frau Dahlmann zu untersuchen. Heute nun ist meine Frage nicht nur eine Neugier, sondern für Frau Dahlmann von großer Bedeutung. Sollte sie nämlich dank Ihrer Operationskunst wieder sehen können, wäre es notwendig, daß ich nach Bologna komme, um vor der Rückkehr Frau Dahlmanns nach Hannover zuerst mit ihr zu sprechen, denn ich habe die Befürchtung, daß gewisse private Dinge, die sie vorher nicht sah, jetzt zu einer großen und peinlichen Auseinandersetzungführen könnten. Ich bitte Sie deshalb herzlich um Nachricht, ob die Operation erfolgreich verlaufen ist und ob ich...«

»Na na, signora.«, sagte Dr. Saviano tadelnd. Luise Dahlmann fuhr herum und ließ den Brief auf den Tisch zurückfallen. Sie hatte den Eintritt des Arztes nicht gehört, so verblüfft hatten sie die Zeilen Robert Sandens. Dr. Saviano sah auf den Briefkopf und nickte.

»Er kam heute an. Ich hätte ihn Ihnen sowieso gezeigt. Eine indiskrete Frage: Wie stehen Sie zu diesem Herrn Sanden?«

»Ein guter Bekannter, weiter nichts. Durch ihn erfuhr ich überhaupt, daß es einen Professor Siri gibt. Im Grunde verdanke ich Herrn Sanden, daß ich wieder sehen kann. Ohne ihn hätte ich resigniert und die Blindheit als endgültig hingenommen.« Luise nagte an der Unterlippe und sah hinab auf das Schreiben. »Dieser Brief ist merkwürdig, Doktor. Finden Sie nicht auch?«

»Ich kenne leider Ihre häuslichen Verhältnisse nicht, Ihren Gat-ten.«

»Wir lieben uns wie am ersten Tag. Ernst hat alles für mich getan, was er nur tun konnte.«

»Gibt es sonst irgendwelchen Anlaß zu Sorgen? Beruflich vielleicht?«

»Nein. Überhaupt nicht. Mir ist dieser Brief ein Rätsel. Was meint er mit >gewisse private Dinge, die zu einer großen und peinlichen Auseinandersetzung führen könnten<? Ich verstehe das alles nicht.« Luise zuckte mit den Schultern und tupfte wieder mit dem Taschentuch gegen die Augen. Sie tränten wieder. Dr. Saviano hob drohend den Zeigefinger.

»Sie waren in der grellen Sonne, signora! Ohne Sonnenbrille!«

»Ja -«

»Hinlegen! Zimmer abdunkeln! Keine Widerrede -«

Luise nickte. »Ich gehe sofort, Doktor.« Sie nahm den Brief Robert Sandens wieder in die Hand und überflog noch einmal den Text. »Der Professor ist in Amerika. Er kommt erst wieder, wenn ich entlassen bin. Denken Sie an meine Bitte, nichts an meinen Mann zu schreiben, weil ich ihn als Sehende überraschen will? Ich möchte diese Bitte jetzt wiederholen . gerade jetzt, nach diesem Brief. Und vielleicht verstehen Sie mich jetzt auch, Doktor.«

»Sie haben irgendein Mißtrauen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ein so merkwürdiges Gefühl, das ist alles. Ich habe fast Angst vor der Rückkehr. Warum, das kann ich nicht sagen. Und nun dieser Brief -«

»Sie hätten ihn vielleicht doch nicht lesen sollen.«

Luise sah Dr. Saviano entschlossen an. Sie hat schöne braune Augen, dachte der Arzt. Vor drei Wochen waren sie noch blind, wie eine schmutzige Milchglasscheibe. Und jetzt können sie wieder strahlen, und in ihrer Tiefe sieht man das Leben mit all seinen Schattierungen.

»Bitte, lassen Sie mich die Blinde weiterspielen, Doktor -«, sagte Luise Dahlmann eindringlich. »Ich werde mich von meiner Pflegerin abholen lassen und nach Hause fahren. Ich möchte als Blinde sehen, was ich als Sehende nie bemerken würde -« »Wenn der Chef das jemals erfährt!« rief Dr. Saviano.

»Er wird es nie erfahren. Bitte, spielen Sie mit, Doktor. Vielleicht hängt von Ihrem Ja so viel ab, was wir heute noch gar nicht übersehen können. Oder es ist nur eine Überraschung von wenigen Minuten . das wäre noch schöner. Ich bitte Sie, Doktor -«

Dr. Saviano ging unruhig hin und her. Im Grunde genommen ist das ihre Privatangelegenheit, dachte er. Wir haben ihr das Augenlicht wiedergegeben - ob sie nun die Blinde weiterspielt, kann uns nicht interessieren, solange sie es nicht benutzt, um Versicherungen und Krankenkassen damit zu täuschen und zu betrügen. Und das ist hier nicht der Fall. Der beste Weg ist, so zu tun, als wisse man von nichts.

»Gut. Nehmen wir an, ich sehe nichts, signora. Sie werden abgeholt von Ihrer Pflegerin und sagen, Sie seien weiterhin blind. Da ist aber noch Schwester Angelina -«

»Sie wird mich nicht verraten.«

»Ach. Mit der haben Sie auch schon gesprochen?«

»Ja.« Luise senkte den Kopf. »Sie fand diese geplante Überraschung ganz lustig.«

»Lustig! Typisch! Man wird sich nie in der weiblichen Psyche zurechtfinden! Tun Sie also, was Sie Ihrer Meinung nach tun müssen! Ich weiß von nichts -«

»Danke, Doktor.«

Dr. Saviano winkte ab. »Und nun ins dunkle Zimmer, marsch! Schwester Angelina soll sofort eine Kortisonspülung machen! Sie wissen, wenn die Sehnerven angeknackst werden, kann Ihnen niemand mehr helfen, auch kein Battista Siri.«

Drei Tage später kam Fräulein Pleschke nach Bologna.

Zum erstenmal sah Luise Dahlmann ihre Pflegerin. Sie war ein nettes, etwas pummeliges Mädchen mit großen Kinderaugen, die immer wie erstaunt in die Welt blickten. Die Sonnentage am Genfer See hatten ihr gutgetan. Sie war braungebrannt, sah satt und zufrieden aus und freute sich offensichtlich, daß es wieder nach Hause, nach Hannover ging, wo der Lehrerstudent auf sie wartete.