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Luise saß reisefertig auf einem Stuhl am Fenster, als Fräulein Plesch-ke eintrat. Im Flur schon hatte Schwester Angelina ihr gesagt, daß die Operation nicht gelungen sei und Frau Dahlmann weiterhin blind sei. Mit ehrlichem Mitleid drückte Fräulein Pleschke die Hände Luises.

»Es ist so schade«, sagte sie stockend und sah Luise an. Ihre Lippen zuckten, sie unterdrückte das Weinen tapfer und bemühte sich, eine feste Stimme zu behalten. Luise hatte einen Augenblick den Drang, sie an sich zu ziehen und zu trösten ... sie preßte die Lippen aufeinander und sah starr geradeaus, wie sie es immer in ihrer Blindheit getan hatte. Verwundert beobachtete Fräulein Pleschke die veränderten Augen. Alles Trübe ist weg, dachte sie. Sie haben Glanz und Farbe. Und trotzdem sieht sie nichts. Aber wenn man sie anblickt, könnte man glauben, es seien gesunde Augen. Wenigstens da hat die Operation etwas genutzt ... man bemerkt die Blindheit nicht mehr.

Dr. Saviano war in Bologna. Er hatte es so eingerichtet, daß er wirklich von dem Beginn des Spiels nichts sah. Er saß in einer Cafeteria unter einem Sonnenschirm und trank einen Campari. Es war gewissermaßen eine Flucht vor dem Mitwissen.

So war die Abreise Luise Dahlmanns aus der Clfnica St. Anna ein stilles, unbemerktes Weggehen. Nur Schwester Angelina begleitete sie bis zur Taxe, die sie zum Bahnhof Bologna bringen sollte.

»Alles, alles Gute, signora.«, sagte die kleine Schwester und drückte Luise die Hand. Tränen standen ihr in den runden, schwarzen Augen.

»Ich danke Ihnen für alles, Schwester.« Luise umarmte sie, aber diese Umarmung war weniger eine Geste des Abschiedes als vielmehr eine Aufwallung von Angst vor dem Kommenden. Dann riß sich

Luise los, stieg mit Hilfe Fräulein Pleschkes in den Wagen und schloß die Augen. So kam sie nicht in Versuchung, zurückzuwinken . zu der kleinen, weinenden Angelina, zu dem weißen Palazzo, zu dem Park mit den blühenden Blumenrabatten, den Pinien und Zypressen und den plätschernden Wasserspielen . zu einer Welt, die sie nicht sehen durfte.

Ich werde es nicht durchhalten, dachte sie, als sie hinein nach Bologna fuhren. Blindsein ist etwas Furchtbares ... aber noch schwerer ist es, Blindheit zu spielen. Das Leben sehen und ignorieren, diese herrliche Welt vor sich zu sehen und zu tun, als lebe man in tiefster Nacht, das ist eine Belastung, unter der die Nerven einmal zusammenbrechen werden.

Sie bemühte sich, immer geradeaus zu sehen oder so zu blicken, als höre sie nur, was an bunten Bildern auf sie einstürmte. In der Bahnhofshalle sah sie einen gläsernen Ausstellungskasten mit einem wundervollen Kleid. Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann ging sie an dem Kasten vorbei. Fräulein Pleschke hatte es nicht bemerkt . sie suchte in ihrer Handtasche die Fahrkarten zusammen.

Du darfst das alles nicht sehen, redete sich Luise vor. Du bist blind ... blind. Du gehst immer nur geradeaus oder dorthin, wohin man dich führt. Und wenn sich dir etwas entgegenstellt . du gehst darauf zu, du siehst es ja nicht, und du prallst dagegen . und du darfst nie zögern, nie dein Gesicht verändern, nichts darfst du . und wenn du etwas greifen willst, mußt du wie früher herumtasten, mit den Fingerspitzen suchen, nicht einfach zupacken, denn du siehst es ja nicht . du siehst nicht . du mußt suchen . suchen.

Die Rückfahrt war eine gute Übung. Fräulein Pleschke war rührend um Luise bemüht, sie las aus den neuesten Illustrierten vor, brachte Orangensaft und belegte Brötchen. Nur im Speisewagen, beim Mittagessen, war Luise nahe daran, wieder ihre Rolle zu vergessen, als ein Tropfen Soße auf ihr Kleid fiel. Ihre Hand zuckte schon, um mit der Serviette die Soße abzutupfen . daß Fräulein Pleschke schneller war und mit dem Messer den Tropfen abnahm, verhinderte Luises Entdeckung.

Ich muß aufpassen, sagte sie sich wieder vor. Ich sehe ja nichts ... alles, was um mich herum geschieht, muß mich völlig gleichgültig lassen, und wenn vor mir die Erde aufreißt ... ich muß geradeaus gehen und in den Abgrund fallen. Ich sehe ihn ja nicht ... ich bin ja blind.

In der Nacht, im Schlafwagen, konnte sie endlich wieder ein normaler Mensch sein. Fräulein Pleschke lag auf dem Rücken und schlief fest. Sie hatte den Mund etwas geöffnet und schnarchte leise mit pfeifendem Atem. Luise rief sie leise an, sie schlief weiter. Sie klopfte an das Bett, Fräulein Pleschke drehte sich etwas auf die Seite und wachte nicht auf. Da setzte sich Luise auf das Bett, schob die Kunststoffjalousie des Abteilfensters etwas hoch und starrte hinaus in die helle Sommernacht.

Dörfer flogen an ihr vorbei, kleine, flimmernde Vierecke, Fenster, hinter denen Menschen saßen, aßen, tranken, sich auszogen, sich liebten, starben ... leuchtende Punkte des Lebens, Schicksale sie alle, tausendfältige Probleme ... und doch nur vorbeihuschende Lichter.

Es war ein etwas dunstiger Vormittag, als der Zug in die Bahnhofshalle von Hannover einrollte. Schon eine Stunde vorher war Erna Pleschke unruhig geworden . einmal, weil sie sich auf das Wiedersehen mit ihrem Studenten freute, zum anderen, weil sie plötzlich Angst vor Ernst Dahlmann bekam. Sie sagte es Luise mit stok-kenden Worten.

»Ihr Mann wird mir Vorwürfe machen. Er wird sagen, daß ich ihn belogen, getäuscht, hintergangen habe.«

»Aber wieso denn?« fragte Luise erstaunt.

»Die vorgesprochenen Tonbänder, die ich alle drei Tage von Montreux schicken mußte.«

»Er weiß doch gar nicht, daß ich nicht in Montreux war.«

»Er wird es aber sehen -«

»Sehen?«

»Ja. Ihre Augen sind doch anders geworden durch die Operationen. Sie sind nicht mehr trüb.«

»Ach so.« Luise dachte nach. Ich werde sagen, der Aufenthalt in der frischen Seeluft von Montreux hat das Trübe weggenommen. Ernst wird es hinnehmen, denn er wird an meine Blindheit glauben. »Mir wird schon etwas einfallen, Erna. Wer Sie auch fragt: Wir waren nie aus Montreux fort.«

»Natürlich nicht.«

Vom Bahnhof fuhren sie mit einer Taxe nach Hause. Sie betraten das Gebäude durch den Seiteneingang für Lieferanten. Ein Provisor der Apotheke war sprachlos erstaunt, die Chefin plötzlich vor sich zu sehen. »Gu-guten Tag.«, sagte er fast erschrocken. »Wir haben gar nicht gewußt, Frau Dahlmann, daß Sie heute.«

»Es soll auch niemand wissen, hören Sie?« Luise sah den jungen Apotheker an. »Bitte, sagen Sie nichts im Laden. Ich will meinen Mann überraschen -«

Auf den Arm Fräulein Pleschkes gestützt, ging sie die Treppe hinauf in die Privatwohnung. Es waren nur wenige Stufen, aber für Luise war es wie das Erklettern eines riesigen Berges. Vor der Wohnungstür blieb sie stehen und tastete nach der Klinke. Wie gut es geht, dieses Blindspielen, dachte sie dabei.

»Bitte, schließen Sie auf, Erna«, sagte sie leise. »Und dann können Sie auf Ihr Zimmer gehen. In der Wohnung finde ich mich allein zurecht. Ich kenne ja jede Ecke.« sie lächelte schwach. »Bin ja oft genug an sie angestoßen.«

Fräulein Pleschke schloß die Tür auf und zog sie hinter Luise wieder zu. Dann ging sie auf ihr Zimmer, froh, nach der langen Reise allein zu sein. Außerdem wollte sie ihren Studenten anrufen. »Ich bin wieder da . wir sehen uns morgen wie immer im Park.«

Luise durchquerte die große Diele, blieb vor dem Garderobespiegel stehen, ordnete noch einmal ihr Haar und lauschte in die stille Wohnung. Hinter der Tür des Wohnzimmers hörte sie leise Ernsts Stimme, dazu ein Kichern, das merkwürdig wie mit einem Seufzen erstarb.

Ihr Herzschlag setzte einen Augenblick aus . es war ihr, als müsse sie jetzt, in dieser Sekunde, zerspringen, auseinandergerissen von einer inneren Explosion. Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß und ging auf die Wohnzimmertür zu.

Wieder dieses Kichern ... die Stimme Monikas ... ein paar Worte von Ernst. Füßescharren . ein leiser, kehliger Aufschrei von Monika.