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Sie lag im Bett und krallte die Nägel in das harte Eichenholz der Seitenteile. Die Gemeinheit, die sie umgab, war so ungeheuerlich, daß sie nur in einzelnen Stücken zum Verständnis wurde, und je mehr Bruchstücke es wurden und sich zu einem Bild zusammensetzen ließen, um so unerträglicher wurde es, das große Spiel des Blindseins weiterzuspielen, um noch mehr, noch Grausameres zu erfahren und zu sehen.

Nach der Operette kam Ernst Dahlmann ins Schlafzimmer. Er sah zu Luise hin und stellte fest, daß sie schlief. Mit jugendlichem Schwung riß er sich den Schlips aus dem Kragen, warf die Kleidung ab und hüpfte nackt in das nebenliegende Bad. Dort brauste er sich, eine Wolke Tabakparfüm zog ins Schlafzimmer, dann surrte der elektrische Rasierapparat. Luise lag mit offenen Augen und wartete. Er rasiert sich für die Nacht, er parfümiert sich den Körper, dachte sie. Mein Gott, verhüte, daß er die Geschmacklosigkeit begeht, schon in dieser ersten Nacht meines Hierseins wieder zu Moni zu gehen -

Ernst Dahlmann kam aus dem Bad zurück. Luise schloß die Augen und sah ihm unter den Wimpern her zu. Er warf seinen seidenen Morgenmantel über den nackten Körper, verzichtete auf den Schlafanzug, beugte sich noch einmal zu Luise vor und vergewisserte sich, daß sie noch immer schlief, tief, mit langen Atemzügen, erschöpft von der Reise, ein Schlaf, der bis in den Morgen dauern würde. Sie sah sein Gesicht, glatt rasiert und glänzend, kalte, starrende Augen ... dann ging er, auf Zehenspitzen, sich beim Gehen wiegend wie eine Tänzerin, lautlos aus dem Zimmer. Die Tür ließ er angelehnt, damit sie nicht knarrte, wenn er zurückkam.

Luise schlüpfte aus dem Bett und rannte an die angelehnte Tür. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufging zu dem Atelier, in dem Moni schlief. Oben klappte leise eine Tür ... die Pforte der Sünde hatte sich geschlossen.

Unschlüssig stand Luise in der großen Zentraldiele und starrte die

Treppe hinauf. Nachgehen, dachte sie. Ihn in den Armen meiner Schwester finden! Und sie töten, beide, während noch das Entsetzen in ihren Augen schreit. Töten mit irgend etwas . mit einem Küchenmesser, mit einem Beil, mit einer Eisenstange . alles, alles kann jetzt zum Werkzeug werden, ein Stuhlbein, mit dem ich sie erschlage wie tolle Hunde, eine Vase, ein Kerzenleuchter, ein Feuerhaken vom offenen Kamin. Es gibt so vieles, mit dem man töten kann, die ganze Welt ist voller Mordwerkzeuge . aber hier ist es kein Mord mehr . hier ist es Befreiung, Erlösung, ein Strafgericht -

Sie lehnte sich an das Treppengeländer und umklammerte die Geländerstäbe. Zweiundzwanzig Stufen nur . zweiundzwanzigmal ein Fuß vor den andern . dann eine Tür . und alles, alles ist vorbei! Zweiundzwanzig Stufen bis zur Hölle . so nah ist das alles . man hätte es früher nie geglaubt. Ein Satz Jean-Paul Sartres fiel ihr plötzlich ein. »Die Hölle - das sind wir!« Sie nickte und schlug mit der Stirn auf das Geländer.

Aber sie hatte nicht die Kraft, diese zweiundzwanzig Stufen hinaufzugehen. Sie hatte nicht die Kraft, dieses Bild anzusehen, das sich ihr bieten würde, auch wenn sie es nachher zerstören konnte und wollte. Sie blieb auf der Diele stehen, sah noch mal nach oben und ging zurück.

Das eine weiß ich jetzt . das war ein Gedanke, der ihr Herz zerriß. Aber die Zeit ist noch nicht da, wo ich ihnen sage, daß ich alles sehen kann. Es wird noch mehr kommen . das kann nur der Anfang sein.

Sie setzte sich in das Wohnzimmer in die Blumenecke und starrte hinaus in die stille, mondhelle Nacht. Es war unendlich schwer, das Idealbild eines Mannes, das man sich in Jahren glücklicher Ehe gezimmert hatte, selbst wieder zu zerstören und kleinzuhacken. Das Verhältnis mit Moni würde andere Dinge nach sich ziehen, das wußte Luise. Ernst Dahlmann war keiner, der sich mit Halbheiten abgab. Noch war er nach außen verpflichtet, den liebenden und sorgenden Ehemann zu zeigen, aber es war auszurechnen, daß ihm auch dies lästig wurde und er auf Mittel sinnen würde, sich dieser letzten Bürde zu entledigen ... nicht gewaltsam, sondern elegant, fast charmant, wie sein ganzes Wesen war, so voller Tragik, daß seine Umwelt nicht sie, Luise, sondern ihn, Ernst Dahlmann, bedauern würde und ihm mitfühlend die Hände drücken konnte.

Mit dem ersten Kuß Monis, mit der ersten Nacht in ihren jugendfrischen Armen war Luise für Ernst Dahlmann innerlich gestorben. Das wußte sie nun. Sie war ihm im Weg, auch wenn sie nichts sah und nur hörte, auch wenn sie nur herumsaß und ein Möbelstück wurde, das ihn nicht störte. Lästig war sie immer; schon, daß sie gegenwärtig war, bildete eine Bremse für die völlige Haltlosigkeit, in die Ernst Dahlmann mit neu erwachter Jugendfrische hineinsteuerte.

Wie wird er es anstellen, dachte Luise in dieser Nacht. Wie wird er den Weg finden, mich auszuschalten? Und welche gemeine Rolle wird Monika dabei spielen? O mein Gott - Monika, meine Schwester ... ausgerechnet meine Schwester -

Einer Eingebung folgend, ging sie hinunter in die Apotheke. Sie wußte, daß heute kein Nachtdienst war. Die Laborräume, die Rezeption, der Laden, das Lager lagen in dunkler Stille. Es roch wie immer nach Arzneien und Gewürzen, Parfüm und Seifen, jene merkwürdige, strengsüße Duftmischung, die in den Räumen einer Apotheke das Fluidum der Heilsamkeit verbreitet.

Im Büro setzte sich Luise hinter Ernst Dahlmanns Schreibtisch und holte die Tageseinnahmebelege heraus. Sie waren fein säuberlich in einem Buch eingetragen. Das Führen der einzelnen Konten besorgte ein Buchhalter ... Dahlmann selbst interessierte nur die Summe, die nach allen Abzügen übrigblieb und die er als Gewinn betrachtete. Für diese Zahlenkolonne hatte er ein eigenes, kleines Buch angelegt. Luise wußte, wo er es bewahrte.

Die Zahlen, die sie las, waren imponierend. Die Zahlen, die sie kannte und die ihr Dahlmann vorlas, waren weniger zufriedenstellend. »Die Leute werden zu gesund, Luiserl.«, sagte er immer wieder. »Die Medizin macht sich selbst kaputt! Es ist ein euphorischer Selbstmord! Wir entdecken immer neue, wirksamere Arzneien ... und die Folge? Die Leute leben, gesund wie die Schildkröten und werden eines Tages zweihundert Jahre alt . aber der Arzt und der Apotheker werden dann zu den notleidenden Ständen gehören. Ein Proletariat der Akademiker.«

Die Wahrheit war anders. Die Mohren-Apotheke hatte umfangreiche Einnahmen, vor allem durch die neue kosmetische Abteilung. Auch wurden die Menschen nicht gesünder, sondern die Krankheiten verlagerten sich. An erster Stelle standen Herz und Kreislauf, an zweiter Stelle stand der Krebs, doch dafür gab es noch keine wirksamen Medikamente.

Auch hier betrügt er mich also, dachte Luise und schloß das kleine Buch wieder fort. Zwei Drittel der wahren Zahlen liest er vor, ein Drittel wandert auf sein eigenes Konto. Warum dieser dumme Umweg? Wie kann eine Blinde kontrollieren, was in den Büchern steht? Warum diese unlogischen Bemühungen der Verschleierungen, wenn eines Tages Luise Dahlmann doch aus diesem Hause verschwinden soll?

Er hat etwas vor, dachte sie. Er hat etwas ganz Gemeines vor. Mein Mann -

Wann Ernst Dahlmann aus dem Atelier Monikas zurückgekommen war, wußte Luise nicht mehr. Sie erwachte gegen Morgen und sah ihren Mann neben sich liegen. Schlafend wie ein Kind, mit einem leisen Lächeln, zufrieden.

Jetzt wäre es leicht, ihn zu töten, dachte sie. Mit beiden Händen an den Hals, zugedrückt, die Daumen gegen den Adamsapfel . er würde es kaum spüren, daß er stirbt.

Sie tat es nicht. Sie lag neben ihm wach, bis er sich rührte, gähnte, aufsetzte, durch die graumelierten Haare strich, mit den Füßen über die Bettdecke scharrte und sich die Brust kratzte. Dann blickte er sie an. Sie hielt die Augen starr gegen die Decke gerichtet. Ernst Dahlmann unterbrach sein Kratzen.

»Du bist wach, Luiserl?« fragte er mit ausgesprochen süßer Stimme.

»Ja, Ernst -«

»Schon lange?«

»Ich weiß nicht. In ewiger Dunkelheit verliert man den Zeitbegriff -«

»Verzeih. Die Frage war dumm von mir. Guten Morgen, Liebes -«