Er beugte sich über sie und küßte sie. Bei diesem Kuß mußte ihm der Gedanke gekommen sein, daß er ein Ehemann sei und man gewisse Pflichten von ihm erwartete. Er umfing den Leib Luises. Dieses Begehren war so ungeheuerlich, daß Luise erstarrte und zu keiner Gegenwehr fähig war. Sie lag wie zu Eis gefroren in Dahlmanns Armen, und er hätte ebensogut eine Schaufensterpuppe lieben können als sie. Er schien es nicht zu merken ... er entdeckte nur, daß auch der Körper Luises von einem treibenden Reiz war. Das erstaunte ihn, und er schob es auf die wochenlange Trennung. In einem solchen Zeitraum wird auch ein bekannter Körper irgendwie wieder neu.
Später lag er, mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn, neben Luise auf dem Rücken und rauchte eine Zigarette. Er hielt ihre eisige Hand fest und streichelte mit den Fingerkuppen ihre Handfläche.
»Jetzt bist du erst wirklich zu Hause, Luiserl.«, sagte er, und es klang sogar ehrlich. »Bist du glücklich?«
»Ja, Ernst, ja.«
Sie starrte an die Decke und kam sich leer vor. Ihre Stimme hallte in ihr wider wie in einer riesigen Halle.
»Heute wird ein schöner Tag. Willst du wieder hinaus nach Herrenhausen?«
»Ja. Fräulein Pleschke holt mich ab.«
»Willst du einen Zug rauchen?«
»Nein -«
»Willst du noch einen Kuß?«
Sie schwieg. Du Tier, dachte sie. Du Schuft! Wie kann ein Mensch bloß so gemein sein -
Da sie keine Antwort gab, stand er auf und ging pfeifend ins Bad.
Kapitel 14
An diesem Vormittag baute Ernst Dahlmann seine Konstruktion ein. Er hatte seinen Rechtsanwalt, Dr. Fritz Kutscher, angerufen und ihn gefragt, ob er einen guten Psychiater kenne.
»Wieso?« hatte Dr. Kutscher geantwortet. »Wollen Sie von ihm suchen lassen, wo Ihr Gewissen sitzt? Ich kann's Ihnen sagen: Links im Gehirn ... aber Sie finden's nicht.«
Wütend hatte Dahlmann aufgelegt.
Seine Konstruktion bestand aus einem Wassertropfgerät. In einen blechernen Behälter, der den Tropfenfall verstärkte zu einem lauten Klick-klick-klick, tropfte durch eine Kanüle aus einem gläsernen großen Kolben in regelmäßigem, nervtötendem Rhythmus ein dicker Wassertropfen. Dieses einfache, aber wirksame Gerät stellte er oben auf den großen Bücherschrank, wo die suchenden Arme Luises nie hingreifen konnten. Er löste den Wattepfropfen von der Kanüle, tippte an den Kolben und atmete auf, als der erste, dicke Tropfen in die Blechbüchse fiel. Klick, machte es. Laut und unüberhörbar. Klick. Und dann, sich in den Rhythmus fügend, klick-klick-klick.
Ernst Dahlmann steckte den Pfropfen wieder auf. Die Probe hatte geklappt. Nun mußte es sich zeigen, wie Luise darauf reagierte. Monika kam aus der Küche und starrte auf das simple Nerven-todgerät.
»Du bist so gemein, Ernst -«, sagte sie und setzte sich. Die Beine wurden ihr weich. »Luise ist immer noch meine Schwester -«
»Daran haben wir in den vergangenen Wochen nicht gedacht, und es wäre falsch, auch jetzt daran zu denken oder fernerhin!« Dahlmanns Stimme war klar und von einer erdrückenden Nüchternheit. »Sie steht uns im Wege . das ist eine Tatsache. Wer sie ist, interessiert uns nicht mehr. Es geht um unsere Liebe, unser Leben, unsere Welt, die wir uns aufbauen wollen.«
»Durch Gemeinheit, durch Betrug!«
»Gibt es eine andere Möglichkeit?«
»Ja! Wir sagen Luise alles und gehen fort.«
»Und wovon leben wir? Von deinen Plakaten?«
»Du hast einen Beruf.«
»Weißt du, was ein angestellter Apotheker heute verdient? Nein ... ich habe diese Apotheke hier von einem muffigen Laden zur besten der Stadt gemacht! Und was habe ich dafür bekommen? Ein Taschengeld! Über jede Mark, die ich aus der Kasse nahm, mußte ich Rechenschaft ablegen wie ein Stift! Wenn Lieferanten kamen ... ich lief zu Luise und ließ die Schecks unterschreiben, weil ich keine Unterschriftsbefugnis hatte. Ich habe mich jahrelang erniedrigt, ich habe meine männliche Würde in den Dreck gelegt, ich habe mich demütigen lassen durch dieses Testament deines Vaters, das eine einzige Rache an mir war! Damit ist es nun Schluß! Endgültig! Ich habe ein Recht auf diesen Besitz ... wie ich ein Recht habe, dich zu lieben ... dich, die Jugend, die Schönheit, die Zukunft.«
Er trocknete sich die etwas feuchten Hände ab, denn der Wattepfropf hatte sich voll Wasser gesogen, schob das Gerät noch ein wenig zur Wand und ordnete seine Krawatte.
»Du weißt, was du zu sagen hast, Moni?«
»Ich werde gar nichts sagen!«
»Beschwöre keine Katastrophe herauf!Sie reißt auch dich mit in den Strudel!« Er faßte sie an die schmalen Schultern und riß sie aus dem Sessel an sich empor. »Ich denke, du liebst mich?«
»Du hast noch keinen Anlaß gehabt, daran zu zweifeln.«
»Wirkliche Liebe, so wie unsere, ist rücksichtslos. Was sich ihr in den Weg stellt, wird überrannt . ganz gleich, wer es ist! Nur die skrupellos Liebenden sind die großen Liebenden -«
»Du bist mir unheimlich«, sagte Monika ehrlich. »Ich habe Angst vor dir. Wie soll das alles werden?«
»Darüber mache dir keine Gedanken.« Er sah zu seinem Tropfgerät auf dem Bücherschrank. »Du mußt nur tun, was wir besprochen haben.«
»Und Luise.?« »Wer fragt, ist unsicher. Du sollst nur an unsere Liebe denken . an nichts weiter.«
Kurz vor dem Mittagessen kam Luise Dahlmann zurück. Sie war mit Fräulein Pleschke einkaufen gewesen. Einige neue Tonbänder, ein paar Schallplatten . die zusammengeschrumpfte Welt, die einen Blinden erfreut.
Ernst Dahlmann zog den Pfropfen von der Kanüle, als er Luises Stimme in der Diele hörte. Der erste Tropfen fiel in das Blechbecken.
Klick-klick-klick
Wie immer verabschiedete sich Fräulein Pleschke an der Tür, nachdem sie Luise abgeliefert hatte. Um drei Uhr nachmittags wollte sie sie wieder abholen für die Fahrt in den Park des Schlosses Herrenhausen.
Luise saß in ihrem Sessel am Tisch. Monika trug das Mittagessen auf. Ernst Dahlmann war einsilbig. »Ärger mit dem neuen Lehrling«, sagte er kurz. »Die Bengel von heute dünken sich schon als große Herren! Dabei sind es Rotznasen, weiter nichts!« In Wahrheit wollte er alles vermeiden, das das Klicken der Wassertropfen übertönte.
Luise hob den Kopf. In die Stille des Raumes, die für das Ohr eines Blinden nie völlig still war, sondern umrahmt von hundert winzigen Geräuschen, fiel wie ein Hammerschlag der Fall des Wassertropfens. Klick-klick-klick - Immer wieder . in Abständen von zwei Sekunden . klick.
»Was ist das?« fragte sie. Ernst Dahlmann sah seine schwägerliche Geliebte bedeutungsvoll an.
»Was, Luiserl?« fragte er zurück.
»Dieses Klicken.«
»Ich höre kein Klicken.«
»Da ist es wieder . und jetzt . jetzt. Ganz deutlich! Hörst du es nicht?«
»Nein, Luiserl ... ich höre nichts. Sei mal still.«
»Da -«
»Nein.« Dahlmann lächelte breit. »Ich weiß nicht, was du hörst .
es ist alles still.«
Luise drehte den Kopf nach hinten. Auch als Blinde wußte sie, woher der Ton kommen mußte . nun sah sie auf dem Bücherschrank die einfache und doch wirksame Konstruktion. So also ist das, dachte sie erschrocken. Er will mich irr machen. Er will mich so zermürben, daß man mich eines Tages abholt. Der arme Herr Dahlmann, wird es dann heißen. So ein Pech im Leben. Erst die Explosion, dann die blinde Frau, und nun ist sie auch noch irr geworden. Und die Welt würde den Mörder bedauern -
»Da tickt es wieder -«, sagte Luise. Es fiel ihr schwer, die Rolle durchzustehen. »Monika -«, sie wandte den Kopf zu ihrer Schwester und sah sie an. Sie bemerkte das Entsetzen Monis, den flehenden Blick, den sie zu Dahlmann schickte, das Zittern, das über ihr Gesicht lief. Bleich wie ein Leinentuch, mit dunklen Rändern um den Augen, saß sie hinter ihrem Teller und umklammerte das Besteck.