Sie hatte sich nicht getäuscht. Er blieb vor ihrer Bank stehen und sah sie lange stumm an. Luise sah gleichgültig geradeaus, sie war ja blind, sie sah keinen Mann vor sich stehen. Robert Sanden atmete tief auf.
»Frau Dahlmann -«
Luise hob lauschend den Kopf, dann lächelte sie.
»Herr Sanden? Endlich -«
»Ich bitte um Entschuldigung. Gestern mußte ich auf der Probe für einen erkrankten Kollegen einspringen und seine Rolle mimen. Ich konnte einfach nicht weg -«
Er setzte sich neben sie und sah sie wieder an. Die Stille zwischen ihnen war schwer und ausgefüllt vom Suchen nach Worten.
»Ich ... ich weiß alles«, sagte Robert Sanden stockend. »Dr. Saviano sagte es mir am Telefon. Es ist furchtbar.« Er ergriff ihre Hand, zögerte und führte sie dann an die Lippen. Eine ehrliche Ergriffenheit war in dieser Geste, das Gefühl, trösten und helfen zu müssen. »Nicht den Kopf hängen lassen.«, sagte er und hielt Luises Hand fest. »Wenn die Operation auch mißlungen ist. Ihre Augen strahlen jetzt, als könnten sie sehen. Sie haben einen Glanz wie lebende Augen -«
»Ist es so?« fragte Luise leise.
»Ja. Professor Siri ist ein Künstler! Wenn sie auch in die Nacht blicken . das Leben spricht wieder aus ihnen.«
»Das haben Sie schön gesagt, Herr Sanden. Es ist schade, daß ich nicht mit einem anderen Kompliment Ihrer Person antworten kann.«
Robert Sanden lachte. »Das wäre auch schwer. Ich bin häßlich, habe eine große, gebogene Nase, ein spitzes Kinn, einen Buckelansatz, eine schiefe Schulter . ich bin, ungeschminkt, prädestiniert, den Glöckner von Notre-Dame zu spielen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.« Luise sah ihn an. Er ist ein schöner Mann, dachte sie. Aber dann erschrak sie. Schon einmal war sie einem schönen Mann verfallen gewesen. Einem Mann, der sie jetzt systematisch vernichten wollte, um zu bekommen, was sein Lebensziel war: Monika, die Apotheke, das Vermögen. »Ich kenne Sie von der Bühne her. Sie sind groß, schlank, gerade gewachsen.«
»Alles Kostüm. Man kann auf der Bühne einen Menschen nicht nur häßlich wie Richard III. machen, sondern auch hübsch wie Romeo. Aus Zwergen werden Riesen, wenn es sein muß, aus Riesen Zwerge, wenn man sie braucht, aus Jünglingen der alte Vater Moor . es ist alles möglich.«
Damit war das Gespräch erschöpft. Robert Sanden malte mit den Schuhspitzen Kreise in den Sand vor der Bank und nagte an der
Unterlippe. Was er sagen wollte, konnte er nicht sagen, was er wußte, war nicht wiederzugeben, worüber die Leute munkelten, wollte er nicht weitertragen.
»Sie haben sich gut erholt«, sagte er, nur um etwas zu sprechen.
»Ja. Mein Mann und meine Schwester finden das auch.«
Robert Sanden nahm den Faden auf, den ihm Luise hinwarf. »Sie haben sich sicherlich sehr gefreut, als Sie zurückkamen.«, sagte er.
»Ernst und Monika? Und wie -«
»Und Ihr Mann hat nichts von der Operation gemerkt?«
»Nein.«
»Ihre glänzenden Augen -«
»Natürlich. Er glaubt, das hätte die Genfer Seeluft gemacht.«
Vom Parkeingang her sah sie Dr. Ronnefeld kommen. Er suchte mit den Blicken die Bänke ab und legte die Hand schützend vor der Sonne über die Augen. Er trug einen Panamahut und hellgelbe Schuhe, eine etwas auffällige Kleidung für einen so würdigen Herrn seines Alters. Aber Dr. Ronnefeld hatte nie viel auf Aussehen gegeben . oft zog er an, was ihm beim Griff in den Kleiderschrank in die Hand fiel, ohne hinzusehen, was es war. So saß er einmal in einem Smoking in der Sprechstunde, und alle Patienten bemühten sich, schnell wieder herauszukommen, weil der Herr Doktor sicherlich etwas Großes vorhabe. Dr. Ronnefeld aber wunderte sich, daß an diesem Tag die Praxis schon um halb zwölf Uhr geräumt war, obwohl er mehr Eintragungen in der Kartei als am Vortage hatte.
»Ich möchte Ihnen noch danken, Herr Sanden, für Ihre vielen Bemühungen, auch wenn sie erfolglos waren«, sagte Luise. »Wie gerne hätte ich Ihnen gesagt: Gucken Sie mich an . ich sehe Sie! Sie haben einen runden Kopf und blonde Haare.« Sie sagte es bewußt so, denn Sandens Kopf war schmal, und seine Haare glänzten in einem dunklen Braun. »Leider hat es nicht sollen sein. Sie haben sich solche Mühe um mich gemacht. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und nun - leben Sie wohl -«
»Soll . soll das ein Abschied sein?« Sanden sah sie groß an. In seinen Augen schrie Angst, wie bei einem kleinen Jungen, der mit seinem Ball eine Scheibe eingeworfen hat.
»Ja.«
»Aber warum, Frau Dahlmann?«
»Was wollen Sie mit einer blinden Frau, Herr Sanden? Ihnen liegen die jungen Mädchen zu Füßen -«
»Ich . ich mag diese jungen Dinger nicht. Ich bitte um die Erlaubnis, mich um Sie kümmern zu dürfen.«
»Aber warum? Ich habe Fräulein Pleschke, ich habe meinen Mann, meine Schwester -«
Sie sah ihn groß an. Jetzt muß er etwas sagen, dachte sie. Jetzt muß er das sagen, was er im Brief an Dr. Saviano und Professor Siri andeutete. Robert Sanden aber schwieg. Er nagte nur an der Unterlippe und scharrte weiter im Sand.
»Trotzdem. Erlauben Sie mir, gegenwärtig zu sein, wo immer Sie sind. Ich habe meine Gründe.«
»Gründe?«
»Ja. Bitte, fragen Sie nicht weiter. Seien Sie nicht grausam, sagen Sie ja.«
»Ich war nie grausam. Ob ich überhaupt grausam sein kann?« Luise legte den Kopf zur Seite. Ja, ich kann es, dachte sie. Ich könnte Ernst wie im Mittelalter foltern, ich könnte zusehen, wie man ihm die Knochen bricht, wie man ihn streckt, aufs Rad schnallt, in den spanischen Stiefel preßt, die Zunge herausreißt, und ich würde ruhig dabeistehen und eine tiefe Freude haben. So hasse ich ihn . so sehr . so schrecklich.
»Sie sind wieder im Park, morgen?« fragte Sanden.
Sie nickte stumm, noch ergriffen von ihrer Grausamkeit.
»Morgen ist Konzert im linken Schloßflügel. Darf ich zwei Karten besorgen?«
»Ja, bitte.«
Robert Sanden ergriff wieder ihre Hand und küßte sie. Dann ging er ohne ein weiteres Wort weg . es war ihm unmöglich, zu sagen, was ihm auf der Zunge lag.
Von der anderen Seite trat Dr. Ronnefeld an die Bank.
»Das ist ja ein Ding!« sagte er gutmütig. »Sitzt auf der Bank und flirtet mit jungen Männern!«
»Dr. Ronnefeld.« Luise starrte an Ronnefeld vorbei und streckte ihm die Hand entgegen, einen halben Meter zu weit zur Seite. Der Arzt ergriff sie und küßte sie gleichfalls.
»Was die jungen Fante probieren, gehörte bei uns zur Erziehung von klein auf. Sie sehen gut aus, Luise. Sie sind wie aufgeblüht.« Er hielt ihre Hand fest und drückte sie. »Der alte Ronnefeld ist ein Quer-kopp, das weiß man. Aber um es gleich zu sagen: Ich habe noch nicht aufgegeben, daß Sie wieder sehen werden. Ein Jahr ist nun rum nach der Operation in Münster ... und ich weiß: Professor Bohne will es noch einmal versuchen! Und es gelingt!«
»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Doktor.« Luise lehnte sich weit zurück. »Ich brauche Ihren Rat ... und Ihren Schutz. Vor allem Ihren Schutz -«
»Stimmt etwas zu Hause nicht?« fragte Dr. Ronnefeld ahnungsvoll.
Luise schüttelte den Kopf. Und plötzlich weinte sie, lehnte sich an seine Schulter und verbarg das Gesicht an seiner Hemdbrust.
Am Abend dieses Tages spielte das Schicksal va banque. Es schuf eine jener Situationen, bei deren Betrachtung eine Gänsehaut über den Rücken läuft.
Ernst Dahlmann hatte seine Gänge zur Zufriedenheit erledigt. Der Nervenarzt Dr. Vierweg hielt sich bereit, bei einem neuerlichen Anfall Frau Dahlmanns sofort zu kommen und eine Beruhigungsinjektion zu geben. »Dieses Ticken- und Tropfenhören ist typisch für eine Psychose«, sagte er. »Sie kann durch den Explosionsschock ausgelöst worden sein. Man weiß ja in der Psychiatrie selten, woher die Erkrankungen kommen, wenn keine organischen oder durch In-fektionen herbeigeführten Veränderungen vorliegen. So ein Irresein ist plötzlich da.«