Ernst Dahlmann war mit dieser Auskunft sehr zufrieden. Sie zeigte, daß Dr. Vierweg keinerlei Verdacht schöpfte, sondern Luise als erkrankt im psychiatrischen Sinne ansah.
Mit dieser Meldung erstaunte er Dr. Kutscher, den Rechtsanwalt. »Das haben Sie ja wundervoll hingefingert«, sagte er mit seinem Sarkasmus. »Wie kann man das so schnell machen? Verraten Sie mir mal den Trick.«
»Trick? Meine Frau wird wirklich gemütskrank.«
»Ach nee! Und das wissen Sie ein paar Wochen im voraus.«
»Die ersten Anzeichen -«
»Mein Lieber, ich bin ja kein Säugling, und selbst der schmeckt den Unterschied zwischen Muttermilch und Trockenmilch. Ich will's auch gar nicht wissen ... nur, ob ich diesen sehr dubiosen Fall übernehme, das weiß ich noch nicht.«
»Sie können Ihr Honorar verdreifachen.«
»In diesem Falle stinkt auch Geld!«
»Ein bekannter Nervenarzt wird die Krankheit attestieren.«
»Das ist es ja, was mich umhaut!« Dr. Kutscher brannte sich eine Zigarette an. »Was Sie da ausgeknobelt haben, muß schon genial sein, um die Medizin derart täuschen zu können -«
Alles in allem: Ernst Dahlmann war mit dem Tag zufrieden und genehmigte sich einen Kognak. Luise war noch im Schlafzimmer, sie zog sich nach dem Ausflug nach Herrenhausen um. Das konnte sie schon allein, ohne Hilfe. Ihr Tastsinn war ungemein ausgeprägt.
In diesen Minuten hielt das Schicksal den Atem an.
Monika trat in das Schlafzimmer, um Luise zum Abendessen abzuholen und zu sehen, wie weit sie mit dem Anziehen war.
Luise war nicht im Schlafzimmer. Die Tür zum Badezimmer war angelehnt, aus dem Türspalt glitzerte Licht in das dunkle Schlafzimmer.
Monika ging weiter, öffnete den Spalt etwas und sah ins Bade-zimmer.
Vor dem großen Spiegel über den beiden Waschbecken stand Luise und kämmte sich die Haare. Sicher, schnell, mit genauen Strichen. Ihre Augen verfolgten dabei die Arbeit des Kammes, die Finger ordneten da eine Strähne, schoben dort eine Locke weg.
Monikas Herz setzte einen Schlag lang aus. Dann löste sie sich von der Tür und rannte aus dem Zimmer. Mit einem Schrei stürzte sie in den Wohnraum und scheuchte Ernst Dahlmann auf, der gerade die Regionalnachrichten des Fernsehens ansah.
»Sie kann sehen.«, stammelte sie nach dem Schrei und schlug beide Hände vors Gesicht. Dahlmann fing sie auf, sonst wäre sie, gelähmt vor Entsetzen, zu Boden gestürzt. »Sie kann sehen . sie steht vor einem Spiegel und kämmt sich.«
Auch bei Ernst Dahlmann setzte einen Augenblick der Herzschlag aus. Dann schüttelte er den Kopf, ließ Monika auf das Sofa gleiten und strich die Haare aus der Stirn.
»Dummheit -«, sagte er, aber es klang nicht so sicher, wie es sein sollte. »Du siehst Gespenster, Moni! Bitte, werde jetzt nicht hysterisch. Allein der Gedanke, Luise könnte sehen . absurd direkt! Wodurch denn? Durch ein Wunder? Mein Süßes, Wunder gibt's nicht mehr . und selbst Wunder können verätzte Hornhäute nicht durch gesunde auswechseln. Überleg dir doch, was du da sagst -«
»Sie steht vor dem Spiegel und kämmt sich.«, keuchte Monika. »So kann sich nur einer kämmen, der sieht -«
»Luise hat einen phantastischen Tastsinn entwickelt. Du weißt, wie sicher sie durch das Haus geht. Nirgendwo stößt sie mehr an . sie muß den Radarsinn einer Fledermaus haben -«
Dahlmann fand diesen Vergleich schön. Er ertappte sich überhaupt in der letzten Zeit dabei, geistreich zu sein. Luise hatte früher immer eine Art maliziöses Lächeln um die Mundwinkel, wenn er in Gesellschaft Konversation machte und mit Bonmots brillierte. Das irritierte ihn, bis er seine Art weitgehend eindämmte, mit Charme zu wirken. Ein Gefühl von Unsicherheit war von da an in ihm, ein Teil Minderwertigkeitskomplex, der an der Seite Luises immer dann stark wurde, wenn alle Welt sie umschwärmte, ihr Komplimente machte, ihren Fleiß lobte und ihn, den Ehemann, als Inventar der Apotheke in Kauf nahm. Das war nun anders geworden. Der Mittelpunkt war er! Seit über einem Jahr entwickelte sich die Mohren-Apothe-ke zu einem Großbetrieb. Man sah den Fleiß und das Können des Ernst Dahlmann und man lachte jetzt auch über die geistreichen Blödeleien, mit denen er seine Reden würzte.
»Ich habe Angst -«, sagte Monika leise. »Mir wird es unheimlich in ihrer Nähe.«
»Wenn es dich beruhigt . ich werde einmal nachsehen.« Dahlmann sah auf den Bildschirm. Ein Politiker weihte eine neue Straße ein. Fahnen wehten, eine Schere wurde angereicht, Großaufnahme: ein dicker, lächelnder Ministerkopf. Hurra! »Überleg doch mal, Moni«, sagte Dahlmann noch einmal. »Wodurch soll sie sehen können? Durch die Luft in Montreux? Denk doch mal logisch -«
Er trat hinaus auf die Zentraldiele. Luise kam in diesem Augenblick aus dem Schlafzimmer. Wie alle Blinden ging sie sehr gerade, auf die Geräusche ihrer Umgebung lauschend, mit den Füßen unmerklich tastend. Sie sah Dahlmann an, aber sie sah durch ihn hindurch, als sei er Glas. Für sie bestand die Welt aus Dunkelheit und Geräusch.
Dahlmann starrte sie stumm an. Unmöglich, dachte er. Sehen können, solch ein Blödsinn! Einer Eingebung folgend, bückte er sich und stellte eine in einer Ecke stehende Bodenvase aus Ton mitten in die Diele, genau in die Laufrichtung, die Luise immer nahm, um das Wohnzimmer zu erreichen. Dann wartete er, an die Wand gedrückt.
Luise ging unbeirrt ihren Weg. Sie schien innerlich die Schritte zu zählen. Die Bodenvase tat ihr leid . sie war ein Andenken an die Mutter. Zu ihrer Konfirmation hatte sie die Vase bekommen, und große, blühende Kirschzweige staken in ihr. Sie hatte immer schon für Bodenvasen geschwärmt, und nun, mit vierzehn Jahren, bekam sie für ihr Zimmer eine eigene.
Ernst Dahlmann beobachtete sie scharf. Jedes kleine Zögern, jedes Stutzen würde sie verraten. Noch zwei Schritte ... noch ein Schritt ... jetzt -
Luise prallte gegen die Vase und trat sie um. Sie kollerte über den Teppich, schlug gegen die Wand und brach am oberen gewölbten Rand ab.
Luise blieb ruckartig stehen und hob lauschend den Kopf. Sie hockte sich und tastete mit den Händen ihre Umgebung ab, fand nichts, richtete sich wieder auf und lauschte, witternd wie ein Reh. Dahlmann hielt den Atem an. Sie ist blind, dachte er, und dieser Gedanke löste eine innere Verkrampfung. Wie kann es einen Zweifel geben.
»Ernst!« rief Luise laut. »Moni! Ernst!«
Dahlmann ließ die Tür zum Wohnzimmer klappen und kam näher. »Luiserl!« rief er und ergriff ihre suchenden Hände. Ja, er küßte sie sogar, und es war ein ehrlicher Kuß der Freude, denn er war sicher, daß sie nicht sehen konnte. »Warum schellst du nicht? Moni hätte dich abgeholt -«
»Ich bin doch immer allein gekommen. Aber irgend etwas stand im Weg . ich bin dagegengerannt . was war das?«
»Eine Vase!« Dahlmann faßte Luise unter. »Weißt du, die alte Tonvase. Die Putzfrau muß sie falsch hingestellt haben.«
»Ist sie kaputt?«
»Nein. Nur ein Eckchen 'raus. Das kann man kleben. Merke: Fällt dir mal ein Zinken 'raus - lach nur, hast Dahlkleber du im Haus!«
Luise lächelte. Ich möchte weinen, dachte sie. Ich möchte einmal aufschreien und alle Qual, allen Betrug dieses vergangenen Jahres in diesen Schrei legen. Und alle, alle müßten ihn hören. Ein Schrei, der ihn und Moni zerreißen müßte.
Dann saß sie im Zimmer, das Fernsehgerät lief, es war eine musikalische Sendung, sie trank ein Glas Wein dazu und aß Konfekt ... und neben ihr saßen Hand in Hand ihr Mann und ihre Schwester und küßten sich mit der Hingabe letzter Vertrautheit.
Einmal, als sie den Kopf zu ihnen hinwandte und sie ansah, stieß Monika erschrocken Ernst Dahlmann zurück und fuhr sich mit bei-den Händen entsetzt durch ihre zerwühlten, blonden Haare. Sie sah Luise mit flatternden Augen an, umfaßte Dahlmanns Arm und nickte zu ihr hin. Dahlmann schüttelte ärgerlich den Kopf. Er sah sich um, suchte etwas, erblickte einen Leuchter und zog ihn zu sich. Es war ein schwerer bronzener Leuchter mit zwei Armen. Stumm, unter der Tanzmusik des Fernsehens, hob er den Leuchter hoch und schwang ihn über dem Kopf Luises. Monika hielt sich mit beiden Händen den Mund zu.