Mit entsetzensweiten Augen starrte ihr Monika nach. Erst als die Tür wieder zuklappte, löste sich die Lähmung von ihr. Sie stürzte vor, zur Tür, wollte sie aufreißen, wollte etwas schreien . Hilfe! Oder Ernst! Oder Luise! . Es war ihr, als verbrenne sie innerlich, aber dann fehlte ihr doch die Kraft, die Klinke herunterzudrücken und hinaus auf die Treppe zu laufen. Sie warf sich auf die Couch, die Decke über ihr begann sich zu drehen, das Fenster tanzte, die Staffelei, die Sterne am Nachthimmel . mein Herz, dachte sie noch . mein Herz setzt aus, ich sterbe vor Angst . ich sterbe.
Vor der Tür, an das Treppengeländer gelehnt, wartete Luise Dahlmann. Sie wartete darauf, daß Monika herauskam. Als nichts geschah, ging sie zur Tür und legte das Ohr dagegen. Im Atelier war alles still. Kein Schritt, kein Geräusch, nichts.
Sie ist ohnmächtig geworden, dachte Luise. Morgen wird sie zu Ernst sagen: Sie war da, in meinem Atelier, sie hat mir die Tasche gebracht, die Krokotasche, und sie hat gesagt, daß es eine Krokotasche ist. Sie kann sehen, sie kann sehen. Woher soll sie wissen, daß es eine helle Krokotasche ist, die du mir vor drei Wochen erst geschenkt hast.
Und was wird er dann tun?
Luise ging zurück in die Wohnung. Sie wußte nicht, was sie mit der angefangenen Nacht beginnen sollte. Als Blinde hätte sie jetzt zu Bett gehen müssen . als sehende Rache aber trieb sie die Unruhe in der Wohnung umher. Wie ein Raubtier schritt sie den Käfig ab, zu dem das Zimmer geworden war . immer rundherum, an der Wand entlang, die Fäuste gegen die Brust gedrückt, mit leeren Augen, die in den Höhlen brannten, weil die Tränen in der Glut des Hasses wegtrockneten.
Weit nach Mitternacht kam Ernst Dahlmann aus der Apotheke herauf. Er war erstaunt, Luise noch im Zimmer zu finden. Sie spielte sich Tonbänder mit Opern vor. Unter dem Arm trug er eine neue Konstruktion, die er gebastelt hatte und nun auf ihre Wirkung ausprobieren wollte.
»Du bist noch auf, Luiserl?« fragte er und stellte den Apparat auf den Tisch. Es war eine Art Metronom, nur schwang kein Zeiger tik-kend hin und her, sondern ein kleiner Eisenbolzen schlug rhythmisch gegen ein dickes Holzstück. Es klang, als hacke ein Specht seine Höhle in einen Baum. Betrieben wurde der simple Mechanismus durch eine Taschenlampenbatterie. Luise sah das Gerät an, während Dahlmann an den Barschrank ging und sich einen großen Kognak einschenkte.
Welche teuflische Phantasie er entwickelt^ dachte sie. >Er war schon immer ein guter Mechaniker. Man sieht ihm an, wie ehrlich er sich freut, solch eine Satanerie erfunden zu haben.<
»Warum gehst du nicht schlafen?« fragte Dahlmann.
»Ich kann nicht, Ernsti -«
»Nimm eine Dahlodorm -«
»Ich habe so eine innere Unruhe . ich weiß nicht, warum.«
»Die Nerven. Nur die Nerven.« Ernst Dahlmann legte die Hände über seinen künstlichen Specht. Ab morgen wird er klopfen, dachte er. Schon morgen früh, beim Kaffeetrinken, wird es durch den Raum klingen. Tack-tack-tack . immer und immer wieder kleine Hammerschläge auf ihr Hirn, und wir werden sagen: Nein, wir hören nichts. Sollen wir nicht besser doch einen Arzt holen? Wieder Dr. Vierweg? Er kennt sich aus mit den Nerven -
»Komm, leg dich hin«, sagte er laut. Er faßte Luise um die Schulter und führte sie in das Schlafzimmer. Er half ihr sogar beim Ausziehen, und sie machte sich steif, als er sie berührte. Er spürte die Abwehr und zog die Hände zurück.
Wie ein Kind deckte er sie zu, küßte sie auf die Stirn und blieb unschlüssig auf der Bettkante sitzen. Luise beobachtete ihn aus halbgeschlossenen Augen. Die Angst lag ihr wie ein Zentnergewicht auf der Brust, er könne sie wieder in den Arm nehmen und den liebenden Ehemann spielen. Zu der Angst mischte sich der Ekel vor ihm, vor diesem Körper, von dem sie geglaubt hatte, daß er ihr allein gehörte und den sie nun teilte mit der eigenen Schwester. Ein Körper, an dem sie jede Stelle kannte, das Geheimnis einer Ehe, an dem jetzt eine andere Frau teilnahm, die genauso liebevoll über diesen Körper streichelte und sich in die Wärme schmiegte, wie sie es getan hatte. Dieser Gedanke allein konnte sie wahnsinnig machen, trieb ihr das Blut in die Schläfen und ließ ihren Leib zittern.
Ernst Dahlmann schien sich entschieden zu haben. Er erhob sich von der Bettkante, sah noch einmal auf die einschlafende Luise und verließ dann das Schlafzimmer.
Im Wohnraum startete er seine Generalprobe. Er stellte das Gerät auf den Schrank, drückte einen kleinen Kippschalter herunter und schob wartend die Unterlippe vor.
Das Hämmerchen knallte nach vorn gegen das Holz, Batterie, Unterbrecher, Federzug arbeiteten einwandfrei. Der künstliche Specht klopfte und hämmerte.
Tack-tack-tack
Dahlmann knipste den Apparat wieder aus. Dann trank er noch einen Kognak, sah auf die Uhr und beschloß, entgegen seiner Absicht, in der Apotheke zu bleiben, doch hinauf zu Monika zu gehen und nach ihr zu sehen. Um diese Stunde kamen erfahrungsgemäß kaum Nachtkunden ... die Zeit zwischen ein und drei Uhr ist immer ein toter Punkt. Eine Viertelstunde Liebe war dabei zu erobern.
Luise hörte, wie er hinauf ins Atelier ging. Sie setzte sich im Bett hoch und lauschte.
Die Tür klappte, aber schon kurz darauf fiel sie wieder zu. Dahlmann kam ins Schlafzimmer, kaum, daß sich Luise wieder schlafend stellen konnte. Er sah verwirrt aus, ratlos, ging ins Bad, ließ Wasser in ein Glas laufen und schluckte anscheinend eine Tablette zur Beruhigung. Dann ging er wieder hinaus, hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich unter die Stehlampe.
Das Atelier war leer gewesen. Monika war nicht mehr da. Auf der Staffelei lag ein Brief. Ein kurzes Schreiben, das Dahlmann als völlig verworren ansah:
»Bitte, suche mich nicht. Ich komme nie mehr zurück. Ich weiß jetzt, daß Luise sehen kann. Ich weiß es ganz sicher. Sie war bei mir, hier im Atelier. Diese Nacht. Wir haben uns schändlich benommen, ich schäme mich vor mir selbst, ich kann in keinen Spiegel mehr sehen... Was immerauch Du jetzt tun wirst, denke daran: Luise kann sehen!
Monika.«
Ernst Dahlmann las diesen Brief mehrmals, und je öfter er die wenigen Zeilen überflog, um so sicherer war er sich, daß Monikas Nerven einfach durchgegangen waren und daß sie wiederkommen würde, wenn sie sich beruhig hatte. Einzig und allein der Satz: »Sie war bei mir, hier im Atelier. Diese Nacht.«, stimmte ihn nachdenklich und machte ihn irgendwie unsicher.
Er nahm den Brief und ging zurück ins Schlafzimmer. Er drehte das volle Licht an und richtete den Schein der Nachttischlampe auf das Gesicht Luises. Sie sieht und merkt es ja nicht, dachte er dabei. Sie lebt in ewiger Nacht.
Er faßte sie an die Schulter und rüttelte sie. »Luiserl!« rief er. »Luiserl.«
Luise tat, als wache sie auf. Sie starrte in das grelle Licht, ohne ein Zucken, ohne ein Zusammenkneifen der Augen. Es kostete un-menschliche Kraft, in diese Grellheit hineinzustieren, ohne sich abzuwenden oder mindestens die Lider zu schließen.
»Ja ... was ist denn, Ernsti. Wie spät ist es denn? Ist schon Morgen?« Sie stützte sich auf. Sie sah den Brief Monikas in seiner Hand, und sie wußte plötzlich, daß sie allein im Hause waren. Dahlmann hielt ihr den Brief vor die Augen .sie blickte daran vorbei, so schwer es ihr fiel. Mit einem Seufzen lehnte sich Dahlmann zurück und zerknüllte den Brief zwischen den Fingern.
Sie sieht nichts! Wenn alles so sicher wäre wie das! Nur ein Blinder kann in dieses grelle Licht starren, nur eine Blinde wirft keinen Blick auf den Brief der erkannten Rivalin.
»Es ist nichts, gar nichts, Luiserl.«, sagte Dahlmann heiser. »Als ich hereinkam, hast du im Schlaf gestöhnt. Da habe ich dich geweckt. Hast du geträumt.?«