»Nein. Ich habe fest geschlafen.«
»Dann schlaf weiter, Luiserl.« Er küßte sie auf die Augen. »Und wenn du träumst . dann bitte nur von mir.«
Sie nickte und legte sich auf die Seite. Er löschte wieder alle Lichter und ging hinunter in die Apotheke.
Du Lump, dachte sie. Du gemeiner Schuft.
O mein Gott, womit habe ich das verdient?
Und auf einmal konnte sie auch wieder weinen.
Am nächsten Tag entfaltete Dahlmann eine rege Aktivität.
Zunächst verzichtete er nicht auf den Effekt, seinen kleinen künstlichen Specht tacken zu lassen. Beim Frühstück hämmerte er lustig vom Schrank herab, und Luise vollbrachte eine schauspielerische Meisterleistung, indem sie sich die Ohren zuhielt und immer wieder rief:»Es klopft . es klopft. Hörst du es denn nicht?«
Dahlmann verneinte und rief Dr. Vierweg an. »Bitte, kommen Sie doch heute nachmittag vorbei, Doktor«, sagte er im Beisein Luises. »Meine Frau fühlt sich nicht wohl. Nein, kein Ticken . diesmal ist es ein Klopfen.« Er wandte sich zu Luise um. »Hörst du es noch immer, Liebes?«
»Ja -« Dahlmann hob den Hörer wieder ans Ohr.
»Meine Frau sagt eben ja, Doktor. Dabei ist es hier ganz still. Ja, danke. Gegen sechzehn Uhr kommen Sie ... danke, Doktor -« Trotz der Müdigkeit, die durch den Nachtdienst und die Erregung über den Weggang Monikas über ihm lag, fuhr er am Vormittag zu Rechtsanwalt Dr. Kutscher.
Der Anwalt schüttete sich einen Kognak ein, als Dahlmann eingelassen wurde.
»Alkohol am frühen Morgen, Doktor?« lachte Dahlmann.
»Es gibt Klienten, die man nur mit umnebeltem Gehirn ertragen kann -« Dr. Kutscher zeigte mit dem Glas auf Dahlmann und dann auf einen Sessel. »Ruhen Sie sich aus. Sie sehen übernächtigt aus.«
Dahlmann blieb stehen, seine gute Laune verflog. »Sie haben mich nur noch wenige Wochen zu ertragen«, sagte er bissig. »Und dann den einen Tag, an dem ich Ihnen den Scheck für Ihre Bemühungen überreiche -«
»Ich habe mir da einiges überlegt.« Dr. Kutscher setzte sich hinter seinen Schreibtisch und schuf damit eine deutliche Schranke zwischen sich und Dahlmann. »Kennen Sie Friedrich August?«
»Was soll der Blödsinn?!«
»Friedrich August war König von Sachsen. Als er 1918 abdankte, sagte er einen klassischen Satz, der es wert wäre, als elftes Gebot zu gelten: >Macht euren Dreck alleene .<« Dr. Kutscher beugte sich zu Dahlmann vor. »Ich danke ebenfalls ab und verabschiede mich von Ihnen mit diesem königlichen Spruch -«
Ernst Dahlmann biß die Zähne zusammen. Die erniedrigende Behandlung, die er erfuhr, erregte ihn weniger als die Tatsache, daß er jetzt ohne Anwalt dastand.
»Sie lehnen meine Mandantschaft ab -«
»Ihre Klugheit ist verblüffend.« »Und warum?«
»Bitte ersparen Sie mir, Ihnen Erklärungen zu geben, die einige Paragraphen des Strafgesetzbuches verletzen.«
»Sie verteidigen Mörder und Diebe, Ganoven und Zuhälter, Huren und Einbrecher . und hier wollen Sie auf einmal Skrupel haben?!« schrie Dahlmann.
Dr. Kutscher nickte mehrmals. »Genau! Von einem Mörder weiß ich - er hat getötet. Ein Zuhälter kassiert Geld von seiner Mieze, eine Hure vertritt das älteste ambulante Gewerbe, ein Dieb hat geklaut . lauter Tatsachen! Sie aber bleiben anonym, und ich soll Ihnen helfen, nicht aus einer Patsche herauszukommen, sondern einen anderen, Ihre Frau, in den Dreck zu ziehen! Ich soll nicht verteidigen, ich soll mitschuldig werden! Lieber Herr Dahlmann - Sie sehen, zu welcher Höflichkeit ich fähig bin, Sie auch noch >lieb< zu nennen - das kann mit Geld nie bezahlt werden, das ist ein so schmutziges Ansinnen, daß ich versucht bin, Sie einfach hinauszuwerfen.«
Dahlmann atmete schwer. Er war hochrot geworden und zog nervös an seiner Krawatte. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie zur Schweigsamkeit verpflichtet sind.«
»Leider!«
Dahlmann drehte sich schroff um. »Auf Wiedersehen!« keuchte er. Dr. Kutscher hob abwehrend beide Hände.
»Um Himmels willen, bloß das nicht!«
Als Dahlmann hinaus war, trank er noch einen großen Kognak. Auch wenn er es nicht gewollt hatte . er hatte sich mehr aufgeregt, als es wert war. Doch kam er sich erleichtert vor, auch wenn es ihn einige tausend Mark kostete.
Bevor Ernst Dahlmann sich mit der Tatsache befaßte, einen neuen Anwalt zu suchen, rief er aus der Telefonzelle eines Restaurants einen Augenarzt an.
»Ich habe nur eine Frage, Doktor«, sagte er. »Kann man feststellen, ob jemand blind ist oder dieses Blindsein nur simuliert?«
»Wer spricht dort, bitte?« fragte der Augenarzt zurück. Seine Stim-me klang verwundert.
Dahlmann hatte auch diese Frage im voraus überlegt. Seine Antwort kam unverfänglich korrekt.
»Hier spricht Oberinspektor Barth vom Städtischen Ordnungsamt. Wir haben einen Bettler aufgegriffen, der behauptet, blind zu sein, und auch als Blinder bettelte. Sein Benehmen aber ist so, als ob er sehen könne. Was haben wir hier für Möglichkeiten, die Wahrheit zu erfahren?«
Der Augenarzt zögerte und dachte nach. Dahlmann wurde unruhig. Es war möglich, daß der Arzt sich über einen zweiten Apparat mit dem Ordnungsamt in Verbindung setzte.
»Das ist einfach und wiederum nicht«, sagte endlich der Augenarzt. »Man kann durch Augenspiegel, Linsenuntersuchungen und andere Methoden die Funktionsfähigkeit des Auges feststellen. Schwieriger wird es schon, wenn man den Sehnerv untersuchen will. Im allgemeinen ist man gerade bei Augenuntersuchungen auf die Mithilfe des Patienten, also auf dessen Wahrnehmungen angewiesen -«
»Danke, Doktor.« Dahlmann hängte ein. Die Auskunft war unbefriedigend. Sie war sogar in hohem Maße erschreckend. Sie bestätigte, was Monika als fest annahm: Luise war in der Lage, die Blinde zu spielen, und konnte in Wirklichkeit sehen. Woher aber konnte sie sehen? War in Montreux etwas mit ihr geschehen?
Dahlmann fuhr zu Fräulein Erna Pleschke. Sie wohnte in einem möblierten Zimmer in der Nähe des Messegeländes und war nicht zu Hause. Die Wirtin wußte auch nicht, wohin sie gegangen war. »Sie hat von ihrer Chefin ein paar Tage freibekommen, das hat sie mir gesagt«, erzählte sie. »Und einen Freund hat sie auch. Vielleicht machen sie einen Ausflug.«
Dahlmann fuhr weiter. Er besuchte den Nervenarzt Dr. Vierweg und wurde gleich vorgelassen. Das Wartezimmer war leer, Dr. Vierweg schien wenig Patienten zu haben.
»Vorweg, Doktor - was kann man tun?« fragte Dahlmann und machte den Eindruck eines sehr erschütterten Ehemannes. »Wenn sich diese Wahrnehmungen verstärken, wenn sie Tag und Nacht Tik-ken oder Klopfen hört ... was kann man machen?«
»Ich würde dann auf jeden Fall die Einweisung in eine psychiatrische Klinik anraten.« Dr. Vierweg hob bedauernd die Schultern, als Dahlmann ein entsetztes Gesicht aufzog. »Leider, es gibt keine andere Wahl. Stationär haben sie dort die Möglichkeit, durch Medikamente und Schocks diese Psychosen einzudämmen oder sogar zum Verschwinden zu bringen. Das geht aber nur unter ständiger ärztlicher Beobachtung.«
»Und wie lange kann das dauern?«
»Das ist nie im voraus zu sagen.«
»Monate?«
»Möglich.«
»Vielleicht Jahre -«
»Das wollen wir nicht hoffen.«
»Und das Geschäft? Die Apotheke?« Dahlmann raufte sich wie verzweifelt die Haare. »Meine Frau hat alleinige Vollmachten. Ich habe nur das kleine Zeichnungsrecht.«
Dr. Vierweg zögerte. Ihm tat der gebrochene Mann leid, der zu dem Schicksalsschlag der Blindheit nun auch noch den beginnenden Wahn seiner Frau durchstehen mußte. »Im Falle einer Geschäftsunfähigkeit Ihrer Frau könnte man die Entmündigung beantragen.«
»Das geht?« fragte Dahlmann naiv.
»Ja. Aufgrund der ärztlichen Atteste spricht ein Gericht die Entmündigung aus. Es wird ein Vormund bestellt . im speziellen Falle wären Sie das, Herr Dahlmann.«
»Wie schrecklich.« Dahlmann erhob sich. Seine Hand bebte, als er sie Dr. Vierweg reichte. »Es ist furchtbar, an so etwas zu denken. Ich liebe meine Frau -«