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Von all dem sah und empfand Luise Dahlmann nichts. Seit sie aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, lag sie still auf dem Rücken, den Kopf in Bandagen, über den Augen eine dicke, weiche Watteschicht. Sie spürte, daß die Ärzte ihr Gesicht mit einer Salbe eingerieben hatten, die das Brennen isolierte und die verätzte Haut mit einem fettigen Schutzfilm überzog.

Nachdem Ernst Dahlmann gegangen war, hatte sie die ganze Nacht wach gelegen. Die Schwester, die ab und zu ins Zimmer kam, glaubte, sie schliefe fest.

Für Luise Dahlmann gab es nach dem ersten seelischen Schock keine Klagen mehr. Von jeher war sie ein logisch denkender, oft nüchterner Mensch gewesen, der Tatsachen hinnahm und sie nicht beweinte. Dadurch wird's auch nicht besser, war ihre ständige Rede, wenn Unvorhergesehenes in den Alltag einfiel. Man muß sehen und sich bemühen, aus der neuen Situation das Beste herauszuholen. Was unabänderlich war, brauchte nicht beklagt zu werden. Das war Zeitverschwendung.

Mit der gleichen Logik überdachte sie nun ihre eigene Lage. So schrecklich sie war, sie mußte für das weitere Leben als Grundlage betrachtet werden. Ein von Säure zerstörtes Gesicht, verätzte, leblose Augen, Blindheit... das waren die Tatsachen, die ihr noch niemand gesagt hatte, aber die sie wußte.

Ernst wird die Apotheke völlig allein leiten, dachte sie. Er ist ein guter Mann, er hat geweint, als er an meinem Bett saß ... ich habe es gehört an seiner Stimme, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Ich werde ihm ein ganzes Leben lang eine Belastung sein, ein tappender, hilfloser Mensch, der wieder lernen muß, wie man geht, wie man fühlt, wie man hört ... ein Mensch, der sich in ewiger Nacht zurechtfinden muß und nur mit dem inneren Auge sieht, was er anfaßt oder was um ihn ist. Ein Mensch, der Freude und Liebe spüren muß, weil er die kleinen, täglichen Beweise der Liebe nicht mehr sieht... einen Blick, ein Nicken, ein Lächeln, eine stumme Liebeserklärung.

Er wird ein schweres Leben haben ... aber er wird es ertragen, weil er mich liebt. Das war ein Gedanke, der Luise Dahlmann froh machte. Ein Leben ist mit der Blindheit nicht zu Ende ... es wird nur innerlicher, konzentrierter, ja fast hungriger nach Freude, Liebe und Glück. Ein Leben, das nach Zärtlichkeiten sich sehnen wird, das die Wärme der Geborgenheit braucht, das Wissen, doppelt geliebt zu werden. Das alles - das wußte sie - würde ihr Ernst Dahlmann geben können.

Sie dachte an die Worte ihres Vaters, als Dahlmann damals vor über vier Jahren um ihre Hand anhielt: »Du bist alt genug, du mußt wissen, was du tust, du bist ein so kluges Mädchen ... aber wenn ein Mann auftaucht, in den man verschossen ist, ist alle Klugheit so viel wert wie ein Haufen Glasscherben. Für mich ist dieser Dahlmann zu glatt, zu ehrgeizig, zu bewußt vornehm. Aber bitte - wenn du willst -, heirate ihn! Leben mußt du mit ihm, nicht ich! Nur eins kann er sich gleich merken: Die Apotheke überschreibe ich dir, nicht ihm! Und das bleibt so, bis du ein Kind hast. Dann erbt das den Besitz! Ich werde das notariell festlegen -«

So wurde es. Der alte Horten schaltete Ernst Dahlmann in der Erbfolge restlos aus, aber Luise heiratete ihn. Jetzt kam ihr zum Bewußtsein, wie gut dies gewesen war. Sie hatte auf ihr Herz und ihren Verstand gehört, und es war richtig gewesen. Jetzt, nach diesem Unfall, zeigte es sich, wie wertvoll ein Mensch wie Ernst war. Ein Mensch, an dessen Liebe man blindlings - im wahrsten Sinne des Wortes traf es jetzt zu - glauben konnte.

Mit solchen Gedanken verbrachte sie die Nacht. Übermüdet schlief sie bis in den späten Morgen hinein und war gerade aufgewacht und hatte flüssige Nahrung in einem Röhrchen über die gleichfalls ver-ätzten Lippen fließen lassen, als Monika und Ernst ins Zimmer kamen.

»Ich bin es, Luiserl«, sagte Dahlmann und streichelte zärtlich ihre Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Eine Hand, die stumm um Hilfe und Liebe flehte. Er küßte sie und behielt sie zwischen seinen Händen. Dabei nickte er Monika Horten zu, näherzukommen und die Tür zu schließen.

»Wer ist noch im Zimmer?« fragte Luise und hob den Kopf ein wenig. Es war, als ob sie durch den dicken Verband sehen könne . ihr Gesicht drehte sich Monika zu, ein bandagierter Kopf, dessen freie Hautpartien rot und runzelig waren und von Salbe glänzten, als sei es verdorbener, zergehender Speck.

Monika Horten lehnte am Türrahmen und preßte die Faust gegen die Zähne. Das wilde Entsetzen, den Schrei, der ihr aus der Kehle drängte, durfte sie nicht zeigen, und doch war es zu viel, was sie plötzlich sah, zu grausam, um es stumm ertragen zu können.

Ernst Dahlmann winkte ihr mit dem Kopf, näher zu kommen. Sie hob hilflos die Schulter, wandte sich ab und preßte das Gesicht gegen die Wand. Schreien, dachte sie. O könnte ich schreien. Was ist aus Luise geworden! In einer Sekunde! Ich kann es nicht begreifen ... ich kann es einfach nicht begreifen -

»Wer ist denn da?« fragte Luise wieder und drückte die Hand ihres Mannes.

»Monika ist gekommen -«, sagte Dahlmann ruhig. »Ich habe sie gerufen -«

»Moni -« Luise richtete sich etwas auf. Dahlmann sprang hinzu, stopfte ihr das Kissen unter den Rücken, damit sie beim Sitzen besseren Halt habe. Es war ein schrecklicher Anblick . ein dicker, in weißen Binden verborgener Kopf, und inmitten der Binden ein Schlitz, aus dem die Worte kamen, klar und deutlich, nur etwas zischend durch die verätzten Lippen. »Ich sehe nicht mehr schön aus, Moni -«

»Luise!« Der Aufschrei befreite. Monika stürzte zum Bett und umarmte ihre Schwester. Sie weinte wie ein Kind, und Luise streichelte ihr über die Haare und das Gesicht, drückte sie an sich und ließ sie an ihrer Schulter ausweinen.

Ernst Dahlmann saß stumm und steif daneben auf der Bettkante. Sein Blick folgte der Beinlinie Monikas ... beim Hinstürzen auf das Bett hatte sich das Kleid emporgeschoben, ein Teil des Oberschenkels lag frei, ein glattes, rosafarbenes Stück Fleisch mit einem winzigen Leberfleck.

Ernst Dahlmann wandte sich ab und strich sich nervös über die Haare. Dann stand er auf und trat an das Fenster, atmete tief und trommelte mit den Fingern gegen seinen Brustkorb.

Ich bin ein Lump, dachte er. Wahrhaftig, ich bin ein Lump. Jetzt zeigt es sich ganz deutlich . aber ich kann es nicht ändern.

Ich habe fünf Jahre geglaubt, ein guter Mensch zu sein ... jetzt sind sie weggewischt, diese sechzig Monate, und es ist wie damals an der Säule im Ballsaaclass="underline" Ich bin ein Wahnsinniger, wenn ich sie sehe.

- Nur wer dieses Gefühl kennt, wird verstehen, daß es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen.

»Ernst -«

Dahlmann fuhr herum. Luise saß im Bett, während Monika sie umarmt hielt und sich beruhigt hatte.

»Ja, Luiserl.?«

Er kam ans Bett und streichelte ihre Schulter. Dabei berührte er auch den Arm Monikas, und es war in ihm wie ein heftiger elektrischer Schlag.

»Moni wird bei uns bleiben.«

»Ich weiß.«

»Für immer.«

»Das können wir nicht annehmen, Luise -« Dabei sah er Monika an. Es war ein Betteln in seinen Augen, ein hündisches Bitten: Bleib ... bleib.

»Ich werde Luise nie mehr verlassen -«, sagte Monika Horten fest.

»Du bist noch so jung, Moni.« Dahlmann würgte an den Worten. »Eines Tages . es wird ein Mann kommen . du heiratest . das Leben geht ja weiter, Moni . und dein Leben beginnt ja erst.«

»Im Hause der Mohren-Apotheke ist Platz für zwei Familien. Ich geh' nicht mehr fort -«

Dahlmann biß die Zähne zusammen. Es war ein körperlicher Schmerz für ihn, daß sie nicht sagte: Ich heirate nie! Es tat ihm bis in die feinsten Nerven weh, daß sie damit rechnete, einmal einem Mann zu begegnen, den sie lieben konnte. Unter einem Dach, dachte er. Ein Mann an ihrer Seite unter meinem Dach. Ich werde zum Mörder werden. O Gott, man könnte es nur verhindern, wenn man mir das Herz herausreißt -