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Robert Sanden wartete an einem der Tische auf der Terrasse. Er hatte Luise seit seinem versteckten Geständnis nicht wiedergesehen. Ein paarmal war er in der Apotheke gewesen und hatte Hustenbonbons gekauft, aber auch dort konnte er schlecht fragen, wie es ihr ging. Er hatte das bittere Empfinden, daß sie ihm die Worte übelgenommen hatte und nun für ihre Spaziergänge einen anderen Park als Herrenhausen aussuchte.

Dessenungeachtet saß er Tag für Tag im Park des Schlosses und wartete mit dem Trotz eines Asiaten, der sich sein Nirwana ersitzt. Er schwänzte ein paarmal die Proben am Theater, meldete sich krank, krächzte dem Intendanten etwas vor und brachte sogar ein Attest über akute Stimmritzenentzündung bei. Er saß auf der Cafeterrasse und verzehrte einige Liter Kaffee und zusammenhängend zwei ganze Torten, kannte bald jede Taube und jeden Zeisig, die herumhüpften und die Kuchenkrümel aufpickten.

Um so größer war die Freude, als er Luise am Arm von Fräulein Pleschke kommen sah. Er lief ihnen entgegen, und es kümmerte ihn überhaupt nicht, daß die beiden Kellnerinnen unverschämt grinsten und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten.

Fräulein Pleschke wurde beurlaubt und war froh darum. In der Zeit ihres Urlaubs hatte sie einen jungen Leutnant der Bundeswehr kennengelernt, und nun war sie in einem argen Konflikt, wofür sie sich entscheiden sollte: Uniform oder Geist. Beides zusammen kommt äußerst selten vor. Heute hatte sie die Uniform bestellt, der angehende Lehrer saß über einer schriftlichen Arbeit, die das Plankton im Steinhuder Meer behandelte, ein Thema, das Erna Pleschke weniger interessierte als die flotten Berichte des jungen Leutnants über nächtliche Übungen im Bayerischen Wald.

Robert Sanden führte Luise zu einem der weißen Stühle und schob ihn an den Tisch.

»Was darf ich bestellen?« fragte er. »Kuchen? Kaffee?«

»Ein Stück Obstkuchen und eine Tasse Schokolade.«

Sie warteten, bis die Kellnerin gegangen war. Dann beugte sich Sanden vor. Sein Gesicht war voll Sorge.

»Sind Sie mir böse?«

»Nein.« Luise schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Wegen meiner Worte.«

»Sie waren unbedacht, weiter nichts. So spricht ein großer Junge, habe ich gedacht. Mein lieber Freund -«, sie legte die Hand auf seine Finger, »man darf nie Mitleid mit Liebe verwechseln. Ich bin eine blinde Frau, ich bin gezeichnet, ich bin ein Jahr jünger als Sie . Sie sollten sich nach Mädchen umsehen, die zehn Jahre jünger sind. Nein, sagen Sie nichts, Robert! Im Augenblick und vielleicht auch noch ein paar Jahre ginge es gut . aber in zwanzig Jahren bin ich fünfzig, Sie einundfünfzig. Stellen Sie sich das vor: Eine blinde, alte, verhärmte Frau, und Sie ein Mann, der immer noch umschwärmt wird, ja, dessen graue Schläfen die Mädchen anlocken wie Honig den Bären. Was soll das? Wir müssen das Leben real sehen, nicht romantisch. Wir sind in einer unheimlichen Logik gefangen, aus der es kein Entweichen gibt, und diese Logik heißt: Man muß verstehen, daß man alt wird, also muß man verstehen, alt zu sein. - Das ist ein harter Satz, der härteste, den ein Mensch treffen kann. Aber was nützt aller Selbstbetrug, aller Singsang: Man ist so alt, wie man sich fühlt. Das ist Sandstreuerei, die den biologischen Verfall nicht abbremsen kann. Das ist Clownerie des Lebens. Die Wahrheit ist: Man wird alt, man ist alt . und eine Frau leider eher als ein Mann.«

Robert Sanden sah sie stumm an. Die dunkle Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Er erinnerte sich, daß sie seit ihrer Reise nach Bologna anders geworden waren, klar und voll Leben, tote Augen, die sich in nichts von denen der Sehenden unterschieden.

Der Kuchen und der Kakao kamen. Luise tastete über den Tisch und schob den Zeigefinger in den Henkel. Vorsichtig hob sie die Tasse zum Mund. Das hatte sie geübt, hundertmal und mehr. Jeder, der dieses vorsichtige Trinken sah, glaubte an ihre Blindheit.

Robert Sanden wartete, bis sie die Tasse wieder absetzte. Ehe Lui-se ausweichen konnte, machte er eine schnelle Handbewegung, als wolle er auf etwas zeigen. Er stieß gegen die Tasse, sie kippte in Luises Finger um, und der heiße Kakao ergoß sich auf den Anzug San-dens.

»Wie ungeschickt ich bin!« rief er und sprang auf. Er sah jämmerlich aus, große Flecken glänzten braun auf Rock und Hosen.

»Der schöne hellgraue Anzug -«, sagte Luise.

Erst als sie es ausgesprochen hatte, wußte sie, was geschehen war. Sie erstarrte, ihre Hände krallten sich in das Tischtuch.

Sie sahen sich an, eine ganze Weile, stumm und auf das erste Wort des anderen wartend. Robert Sanden lächelte zaghaft und setzte sich langsam. Er nahm Luises Hände, sie waren eiskalt, wie gestorben.

»Ich habe es geahnt.«, sagte er stockend. »Ich habe es absichtlich getan. Ich weiß, daß Sie sehen können.«

Mit einem Ruck entzog sie ihm die Hände.

»Lassen Sie mich gehen -«

Sanden hielt sie fest, als sie aufspringen wollte.

»Nein. Flüchten Sie nicht. Ich weiß auch, wie es bei Ihnen zu Hause ist . in Ihrer Ehe, mit Ihrem Mann, Ihrer Schwester . ich weiß alles.«

»Lassen Sie mich gehen«, keuchte Luise und sprang auf.

»Ja.« Auch Sanden erhob sich. Die großen braunen Flecken auf seinem Anzug genierten ihn nicht. »Lassen Sie uns zusammen gehen . lassen Sie uns gemeinsam gehen . nicht nur heute . von jetzt an immer.« Er schluckte und senkte den Kopf. Wie ein kleiner Junge, der um fünf Pfennig für Bonbons bettelt, sagte er leise: »Ich liebe Sie, Luise.«

Ein alter, klappriger Lieferwagen mit einem Zeltplanenverdeck hielt vor der Mohren-Apotheke. Aus dem Führerhaus kletterte Monika

Horten, in langen, engen blauen Hosen und einem grellgelben Pullover. Ernst Dahlmann, der gerade einer Kundin ein Hormonpräparat zur Straffung schlaffer Altershaut erklärte, ließ sie stehen und stürzte auf die Straße.

»Bist du verrückt?« zischte er, als er neben Monika stand. Der Lastwagenfahrer klappte das Verdeck zurück. »Was willst du hier? Wenn dich Luise entdeckt.«

»Das soll sie ja.«

»Monika! Denk an unseren Pakt!«

»Ich will nur meine Sachen aus dem Atelier holen. Dann hast du Ruhe vor mir.«

»Und wenn Luise vorzeitig zurückkommt? Wenn sie dich hört?«

»Das braucht sie nicht. Ich bleibe so lange, bis sie zurückkommt.«

»Nein!«

»Willst du mich hindern, mich von meiner Schwester zu verabschieden?«

»Ja!«

»Affe!«

Sie ließ ihn stehen und ging mit dem Lastwagenfahrer ins Haus. Dahlmann stand wie betäubt. Kein Schlag hätte ihn mehr aus der Fassung bringen können als dieses eine Wort und die unendliche Verachtung, die in ihm lag. Und die Haltung Monikas, die entschlossen war, das neue Gebäude aus Liebe und Fürsorglichkeit zu zerstören, den letzten Trick, den Dahlmann in einer bereits panikartigen Hilflosigkeit versuchte.

Er rannte ihr nach und zog sie in die Wohnung. Sie schlug zwar um sich, aber da er sie nur ins Zimmer stieß und nicht hinter sich abschloß, sondern schwer atmend zum Barschrank ging und nach dem Kognak griff, schrie sie nicht um Hilfe, sondern setzte sich auf die Couch in der Blumenecke.

»Bitte, gebärde dich nicht als starker Mann!« Ihre Stimme troff von Spott. »So jung, um Siegfried zu sein, bist du auch wieder nicht. Das ist passe -«

Dahlmann atmete ein paarmal tief durch. Der Spott auf sein Al-ter, dieses Trauma, das ihn zu allen Handlungen trieb, brannte in ihm wie ein offenes Feuer. Er trank aus der Flasche und starrte Monika mit zitterndem Gesicht an. Sie saß aufreizend zwischen den Blumen, ein blaugelber Paradiesvogel mit leuchtendem goldenem Federhut. Ihre Zehen pendelten auf und ab.