»Es ist so schön, daß du da bist, Moni.«, sagte Luise zärtlich. Sie streichelte wieder das lange blonde Haar ihrer Schwester und drückte sie an sich. »Fast ein Jahr habe ich dich nicht gesehen . und nun -« Sie wandte plötzlich den Kopf ab und sank zurück in die Kissen. Monika umklammerte sie.
»Du wirst mich wieder sehen können.«, rief sie. Es sollte tröstend sein, aber die Verzweiflung schrie deutlicher aus den Worten. »Glaub es mir . du wirst wieder sehen können, und wir werden Spazierengehen, wir werden hinausfahren zum Steinhuder Meer und wie damals um den ganzen See segeln. Weißt du noch, wie das Boot umkippte und du mich vor dem Ertrinken gerettet hast. Zwei Stunden lang trieben wir mit dem umgestürzten Boot im See, klammerten uns am Kiel fest . Luise, glaub mir . du wirst wieder sehen können -«
»Ich glaub es, Kleines . ich glaub es ja.« Luise ließ sich zurücksinken. Sie hielt die Hände Monikas fest, tröstend und begütigend, wo in ihr selbst ein neuer Brand aufglühte und die dünne, künstliche Wand der Beherrschung zerstörte.
Die Angst, das Fürchterlichste, das sie bisher mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte, kam wieder in ihr hoch. Sie war plötzlich so mächtig, daß alle Logik, alle schönen Selbstgespräche der Nacht untergingen in dem Sturm, den die Angst in ihr erzeugte.
»Ernst.«, rief sie. »Ernst -«
»Luiserl -« Dahlmann beugte sich über ihren unförmigen Kopf. »Ich bin da -«
»Du hast mit den Ärzten gesprochen -«
»Ja.«
»Was sagen sie? Bitte, bitte, belüg mich nicht . du weißt, daß ich stark genug bin, die Wahrheit zu erfahren. Was sagen sie -«
»Sie haben Hoffnung, Luiserl.«
»Du belügst mich nicht, nicht wahr?«
»Nein, Liebes.« Dahlmann kaute an seiner Unterlippe und zwang sich, seiner Stimme einen normalen, hoffnungsvollen Klang zu geben. »Du weißt, daß auch die Augen etwas abbekommen haben -«
»Gesagt hat es mir noch keiner. Aber ich weiß es -«
»Die Hornhäute sind getrübt.« Dahlmann atmete tief auf; es war schwer, zu lügen, zumindest in diesem Falle. »Es kann sogar sein, daß sich alles gibt. Das wird sich bald herausstellen. Auf jeden Fall ist man sehr hoffnungsvoll.«
»Und mein Gesicht?« Sie drehte den bandagierten Kopf zu ihm. Jetzt sieht sie mich an, dachte Dahlmann und schauderte. Sie sieht mich forschend an, und ich weiß sogar, daß sie mich sieht, auch wenn ewige Nacht um sie ist.
»Ernst . wie ist mein Gesicht?«
»Wie es nach einer Verätzung aussieht, Luiserl. Was soll ich da sagen -«
»Also schlimm? Verbrannt. Häßlich.«
»So schlimm ist es nicht. Du weißt, daß es kosmetische Operationen gibt. In einem Jahr wirst du wieder aussehen wie früher . vielleicht noch hübscher -«
Es sollte wie ein Scherz klingen. Luise faßte es auch so auf; sie sah ja nicht, wie Dahlmann bei diesen Worten Monika anblickte und das Wort >hübscher< zu einer Liebeserklärung wurde. Auch Monika bemerkte es nicht . sie starrte gegen die weiße Wand und hatte den Schock noch nicht überwunden.
Ernst Dahlmann ging hinaus. Er ahnte, daß er die Schwestern allein lassen mußte. Es gab Dinge, die selbst ein Ehemann nicht zu hören brauchte.
Auf dem Flur traf er den Stationsarzt. Seit der Einlieferung und dem ersten Bericht Dr. Ronnefelds war es die erste fachärztliche Stellungnahme.
»Wir wollen ehrlich sein«, sagte der Stationsarzt und trat mit Dahlmann an eines der Flurfenster. »Ihre Gattin wird blind sein -«
»Das habe ich befürchtet.« Dahlmann zündete sich mit bebenden Fingern eine Zigarette an. »Und ... und sie wird es bleiben, nicht wahr?«
»Aller Voraussicht nach ... ja. So schrecklich es ist ... sie hat einen ungeheuren Lebenswillen, und Sie, Herr Dahlmann, werden ihr einziger Halt sein. Sie müssen Ihrer Gattin die Augen ersetzen, die Sonne, die Blumen, die Schönheit, die ganze, für sie jetzt im Dunkel liegende Welt. Wir werden hier oft mit solchen Fällen konfrontiert, Sie sind kein Einzelschicksal... und immer müssen wir sagen: Hier hilft nur die Liebe ... eine Liebe, die zu den größten Opfern bereit ist.«
»Das will ich, Doktor. Ich werde Luises Augen sein.« Dahlmann zerdrückte seine Zigarette in der Erde eines Blumentopfes. Es schien ein beliebter Aschenbecher zu sein ... unter der Primelblüte häuften sich die Zigarettenreste. »Ich danke Ihnen, Doktor. Wann wird sie entlassen werden können?«
»Nicht vor zwei Wochen -«
»Danke, Doktor.«
Dahlmann sah dem Arzt nach, der in eines der Zimmer trat. Zwei Wochen, dachte er. Zwei Wochen allein mit Monika. In diesen zwei Wochen werde ich die Hölle oder den Himmel erleben . und was es auch wird, ich werde ein Teufel sein . und es hilft nichts, daß ich es weiß -
Kapitel 3
In der Nacht nach diesem Besuch küßte Ernst Dahlmann zum erstenmal Monika Horten.
Sie dachte sich nichts dabei. Sie saß im Sessel und weinte, sooft sie an das zerstörte Antlitz Luises denken mußte. Daß Ernst Dahlmann sie in den Arm nahm und küßte, empfand sie als Trost, als eine schwägerliche Zärtlichkeit, weiter nichts.
Für Dahlmann war dieser Kuß ein Faß Öl, das man in ein schwelendes Feuer wirft. Er verglühte innerlich, und es bedurfte einer unmenschlichen Anstrengung, sich nach diesem Kuß von ihr zu lösen und den Rest des Abends ein normaler Mensch zu bleiben. Wie erregt er war, erkannte man nur am Zittern seiner Hände, wenn er die Gläser mit Wein auffüllte oder Monika Feuer für die Zigarette gab.
Unruhig ging er in dem großen Wohnzimmer hin und her, als Monika schon längst im Fremdenzimmer schlief. Ein paarmal stand er vor der Tür des Gastzimmers, die Hand bereits zur Klinke ausgestreckt. Aber zum letzten Schritt fehlte ihm der Mut, so groß seine Leidenschaft war und so heftig es in ihm drängte, fünf Jahre nicht nur zu vergessen, sondern - dieses Gefühl nahm jetzt überhand in ihm - fünf verlorene Jahre nachzuholen.
Hinzu kam die Angst, er könne abgewiesen werden. Einem Sturm stemmt man sich instinktiv entgegen, dachte er. Und wenn es auch schwer ist, ruhig zu bleiben ... diese Liebe muß wachsen, muß ausgesät werden, muß Wurzeln schlagen, muß umsorgt werden, ehe die erste Blüte hervorbricht und Erfüllung verspricht. Luise wird für immer blind sein . was bedeuten da Wochen oder Monate? Einmal wird das Glück in die bittend offenen Hände fallen, die Zeit wird arbeiten und abschleifen wie das Meer, das aus rauhen Steinen runde Kiesel macht. Man muß warten können auf das Glück.
Warten. Ernst Dahlmann trat hinaus in die Nacht und dehnte sich, wie aus dem Winterschlaf erwacht.
Wieviel Zeit hat man jetzt, dachte er. So viel Zeit . unbeobachtet und frei. Zeit, sich das große Glück zu erobern . oder zu stehlen. Die Wahl der Mittel würde aus der Situation geboren werden.
Er sah hinauf zum Fenster des Gastzimmers. Monika Horten schlief noch nicht. Ein schwacher Lichtschimmer war hinter den Gardinen, die Nachttischlampe brannte noch.
Wir haben Zeit, dachte Dahlmann wieder. Die Hauptsache ist . sie bleibt hier. Sie bleibt bei mir für immer -
Dr. Ronnefeld, der Hausarzt, hatte keine Ruhe gelassen. Wochenlang hatte er mit den Kapazitäten der Augenchirurgie korrespondiert, hatte Röntgenbilder eingeschickt, die Krankenberichte der Klinik, Fotos . und immer hatte er die Antwort bekommen: abwarten. Noch ist alles zu frisch. Noch sind die Nerven, ist der ganze Augenkörper zu sehr gereizt durch den Unfall. Auch die verätzte Hornhaut muß erst wieder zur Ruhe kommen, ehe daran zu denken ist, eine Transplantation zu wagen. Aber auch hier ist eine Prognose ausgeschlossen . zu oft hatte man erlebt, daß sich überpflanzte Hornhäute wieder abstießen und dann eine zweite Operation ausgeschlossen war.
Luise Dahlmann war nach drei Wochen entlassen worden. Dr. Ron-nefeld bezeichnete es als ein Glück, daß sie nach der Abnahme der Verbände nicht ihr Gesicht sehen konnte. Keine Haut überzog mehr den schmalen Kopf, sondern ein runzeliges, rosaweißes Etwas mit gelben Flecken bedeckte das Gesicht. Es gab keine Augenbrauen mehr und keine Wimpern . nur die Lippenhaut hatte sich merkwürdigerweise erneuert, vielleicht, weil Luises Hände damals rechtzeitig vor dem Mund lagen und eine kompakte Verätzung verhinderten. Es wurde so ein erschütternder Anblick: In einem runzeligen, verbrannten Gesicht zwei blühende, rote, schöne Lippen . eine Blu-me in einer Wüste, ein Fleck pulsierendes, warmes Leben inmitten einer Mondlandschaft.