Dr. Kutscher versuchte es mit der alten und bewährten Methode, nach der die Kriminalpolizei aller Länder arbeitet. Er kümmerte sich um die Routinefragen, so absurd sie auch waren.
Er führte an diesem Vormittag genau sechsundfünfzig Telefonate.
Dann wußte er alles.
Er kannte den Namen des Mannes, der der Geliebte Luises sein sollte.
Er wußte, wo Luise die vergangene Nacht verbracht hatte.
Und dann setzte er sich in seinen ledernen Sessel, nahm eine Brasil und blies zum eigenen Vergnügen kunstvolle Ringe ins Zimmer. Er hatte es sich verdient, eine halbe Stunde zu verspielen. Er war mit sich selbst sehr zufrieden.
Die beiden Serviererinnen vom Schloßcafe machten große Augen, als Ernst Dahlmann jeder von ihnen einen Zwanzigmark-Schein in die weiße Schürzentasche steckte.
»Ich bin von der Versicherung«, sagte er. »Ich habe den blödsinnigen Auftrag, Frau Dahlmann zu beobachten. Sie wissen ... wenn ihr was passiert, dann müssen wir zahlen. Und wenn wir immer zahlen müssen, womit sollen wir dann die schönen Versicherungspaläste bauen? Es ist doch so ... den Wiederaufbau der deutschen Städte verdanken wir den Versicherungen und Banken.«
Die Mädchen kicherten. Ein Witzbold, dachten sie. Aber was will er wirklich? Was ist mit der armen, blinden Frau Dahlmann.
»Sie kennen doch Frau Dahlmann?«
»Aber ja.« Das Mädchen, das sich Irma nannte, nickte heftig. »Ist ja unser Stammgast.«
»Sie hat gestern mit einem Mann hier gesessen?«
»Ja.«
»Und ist mit ihm weggegangen?«
»Ja.« Irma wurde verschlossener. »Warum?«
»Wieso warum?«
»Was geht Sie das an? Solche Fragen hat die Polizei auch gestellt.«
»Die Polizei? War die denn hier?«
»Ist denn was passiert?« fragte das Mädchen, das sich Blondie nannte. Dahlmann schüttelte den Kopf.
»Nein, nein! Uns interessiert nur der Mann. Wir vermuten, daß er von der Konkurrenz war und Frau Dahlmann beschwatzen will, die Versicherung zu wechseln. Sie glauben nicht, meine Damen, wie hart der Kampf in unserer Branche ist.«
Die Damen lächelten wissend. Blondie hatte es sogar erlebt. Jemand wollte sie dagegen versichern, daß sie Kaffee auf die Kleider der Gäste goß. Dabei war der Chefin der Haftpflicht. Aber der Werber hatte ihr einen langen Vortrag über Zusatzversicherungen und andere Dinge gehalten und sie am Ende in den Hintern gekniffen. »Dagegen gibt es keine Versicherung!« hatte er scherzhaft gerufen. »Und genau dagegen brauch' ich eine!« hatte Blondie schlagfertig geantwortet. Blondie war eben ein kluges Kind.
»Sie kennen den Herrn?« fragte Dahlmann. Die Mädchen schüttelten die hübschen Puppenköpfchen.
»Nein«, sagte Irma. »Er kam zwar oft zu uns, aber wie sollen wir seinen Namen kennen?«
»Wie sah er denn aus?«
»Nett.« Es war Blondie, die diese Feststellung traf.
»So? Nett?! Und wie alt?«
»Jünger als Sie -«
Solche Sätze hörte Dahlmann nicht gern. Er schluckte seinen Ärger hinunter. »Wie alt ungefähr?« fragte er.
»Mitte Dreißig.«
»Ich bin zweiundvierzig! So viel jünger ist er also auch nicht.«
Blondie kicherte keck. »In diesem Alter machen ein paar Jahre bei einem Mann allerhand aus.«
»Sie müssen's ja wissen!« Dahlmann bemühte sich, Haltung zu bewahren. Das Kichern ging ihm auf die Nerven. Ein junger Mann, dachte er. Ein netter Mann. »Wie sieht er denn aus?« fragte er wieder. »Ist er groß, breit.«
»Mittelgroß, aber nicht so dürr, wie die Motorradjünglinge. Und immer elegant im Zeug. Übrigens ist der Frau Dahlmann da ein Pech passiert.«
Dahlmann horchte auf. »Pech? Was denn?«
»Sie hat ihre Tasse Kakao über den hellen Anzug des Herrn geschüttet. Der sah vielleicht aus! Aber der Herr hat sich gar nichts daraus gemacht . er ist mit ihr fortgegangen, als ob gar nichts passiert wäre! Jeder andere hätte geschimpft oder sich mit den großen Kakaoflecken geniert . der nicht! Der ist ein Weltmann!«
»Und im übrigen muß ich den schon mal gesehen haben!« Irma schob die Unterlippe nachdenklich vor. Ihr Gesicht bekam dadurch den Ausdruck eines satten Schafes. »Irgendwo in der Zeitung, in einer Illustrierten . jedenfalls gedruckt. Das ist bestimmt kein Unbekannter -«
»Danke.« Dahlmann sah ein, daß er mehr nicht erfahren konnte. Er bezahlte sein Bier, ärgerte sich über die verlorenen vierzig Mark, denn die Auskunft, die er erhalten hatte, war diese Summe nicht wert, und verließ das Schloßcafe. Mißmutig fuhr er zurück nach
Hannover. Ein bekannter Mann, dachte er immer wieder. Der in der Zeitung abgebildet wurde. Mit Kakaoflecken auf einem hellen Anzug. Man konnte doch nicht alle Reinigungen Hannovers abfragen: Hat bei Ihnen ein Mann einen hellen Anzug abgegeben, auf dem Kakao verschüttet war.? Und wenn er gar nicht in Hannover wohnte?
Dahlmann fuhr bei der Polizei vor, um das Protokoll über die Rückkehr seiner Frau aufnehmen zu lassen.
Die Beamten lächelten höflich, als Dahlmann sich setzte. Sie lächeln hämisch, dachte er. Sie lächeln wie dumme Jungen, die einen Streich gemacht haben. Sie grinsen vor Schadenfreude.
»Unsere Ermittlungen, die ja bereits angelaufen waren, haben ergeben, daß Ihre Mitteilung richtig war. Ihre Frau ist wieder da, sie hatte lediglich woanders übernachtet.«
Dahlmann empfand, daß der Beamte das Wort woanders besonders genußvoll aussprach. Er preßte die Lippen aufeinander.
»Ja, bei oder mit ihrem Geliebten!« zischte er. Der Beamte senkte diskret den Blick.
»Das ist eine Privatangelegenheit. Uns ist lediglich wichtig, daß keinerlei Entführung oder Erpressung vorliegt, sondern nur eine au-ßerhäusige Übernachtung. Das gehört in den Zivilsektor . wir sind nur für Strafsachen zuständig. Wenn Sie unterschreiben, können wir die Akte schließen. Auch Herr Sanden hat bewiesen, daß keinerlei verbrecherische Absicht vorlag.«
Ernst Dahlmann beherrschte sich in diesem Augenblick vollendet. Er zuckte weder zusammen, noch zeigte sein Gesicht eine Regung. Er nickte nur, unterschrieb den Protokollbogen, ohne den Text durchzulesen, und verließ schnell das Zimmer.
Robert Sanden! Der Schauspieler Robert Sanden!
Ein Komödiant.
Dahlmann blieb auf der Straße vor dem Polizeipräsidium stehen. Ihm war plötzlich leicht ums Herz. Er hätte lachen können, wenn es nicht zu blöd vor all den Passanten gewesen wäre.
Er hatte mit einem harten, erbarmungslosen Gegner gerechnet.
Mit einem Kampf, der keine Gnade kannte. Und nun war es nur der Bonvivant des Stadttheaters, ein Mann, der vom Anschwärmen lebte und vom Applaus, und von einem Gehalt, das die MohrenApotheke als Wechselgeld in der Kasse hatte.
Das ist kein Gegner, dachte Dahlmann. Eine Riesenlast fiel von ihm ab wie ein kalbender Gletscher. Man kann alles auf der Welt kaufen, es ist nur eine Preisfrage. Der Preis des Herrn Robert San-den würde zu bezahlen sein, dessen war sich Dahlmann in diesem Augenblick völlig sicher.
In den Stunden der Dahlmannschen Nachforschungen war Dr. Kutscher in der Mohren-Apotheke erschienen. Er traf Luise dabei an, wie sie dem noch immer vom Alkohol betäubten Julius Salzer kalte Kompressen auf die Stirn legte.
»Wer ist denn dieser alkoholgewässerte Knabe?« fragte Dr. Kutscher. Er wunderte sich dabei, wie sicher Luise die Kompressen auflegte, für eine Blinde eine wahrhaft beachtliche Tastleistung. Luise hob beide Hände.