»Er ist doch nicht etwa ein Bettnässer?« rief die Wirtin entsetzt. »Ich habe erst vor einem Jahr die Matratzen erneuert!«
»Keine Sorge. Er ist nur ein geistiger Bettnässer.« Dahlmann überließ Salzer seinem weiteren Schicksal und fuhr zur Wohnung des Schauspielers Robert Sanden.
Mit einer Erklärung, wer Julius Salzer war, hatte Dahlmann keinerlei Schwierigkeiten. »Er ist ein alter Studienkollege, Luiserl!« hatte er gesagt. »Gestern abend stand er plötzlich vor der Tür, blau wie eine Feldhaubitze von 1870. Er ist Ingenieur, und irgendwie muß er auf der Messe etwas vorbereiten. So ganz klug bin ich aus seinem Gelalle nicht geworden. Dann hat er noch meinen Whisky zu dem anderen Alkohol gekippt und lag parterre. Ist sonst ein lieber Kerl, der Friedrich. War unser Primus auf der Schule.«
»Und wo kommt er her?« fragte Luise ruhig.
»Aus Wuppertal. Seine Fabrik stellt gummielastische Waren her. Hosenträger, Strumpfbänder, Ärmelhalter und neuerdings auch Sicherheitsgurte für Autos. Ich bringe ihn ins Hotel zurück, Luiserl. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«
Luise schwieg. Wer ist dieser Julius Salzer, dachte sie. Warum lügt er wieder? Friedrich und Ingenieur aus Wuppertal! Wer verbirgt sich hinter dem jungen betrunkenen Mann? Wie kommt er in unsere Wohnung?
Sie wartete, bis sie Dahlmanns Wagen wegbrummen hörte. Dann suchte sie im Telefonbuch die Nummer der Auskunft.
»Ich möchte die Rufnummer des Einwohnermeldeamtes Bückeburg«, sagte sie. »Ja. Danke. Ich warte.«
In fünf Minuten würde man wissen, wer dieser Julius Salzer war.
Ernst Dahlmann klingelte vergebens an der Tür Robert Sandens. Er war nicht zu Hause. Um diese Zeit waren die Nachmittagsproben. So fuhr Dahlmann weiter zum Theater und verhandelte in der Portiersloge am >Eingang für Bühnenangehörige< lange und zäh, bis der Pförtner sich bereit erklärte, Herrn Sanden von der Probe wegzurufen. Zu dieser Tat wurde er erst inspiriert, als Dahlmann neben einer Zigarre auch einen Geldschein hinschob. »Zum Anzünden!« sagte er mit sauer-fröhlicher Miene. Der Portier lachte und klingelte zum Inspizienten. Dort erfuhr man, daß Herr Sanden gerade seine große Szene im zweiten Akt probte. Es war die erste Kostümprobe mit Bühnenbild und Beleuchtung. König Lear. Robert Sanden spielte darin den Narren.
»Es wird bestimmt zwanzig Minuten dauern«, sagte der Portier. »Da kann man nicht einfach weggehen.« Er schnupperte an der Zigarre. »Setzen Sie sich doch in die Kantine, mein Herr. Ich schicke den Herrn Sanden dann dorthin. Wen soll ich denn melden?«
Dahlmann hatte eine plötzliche Eingebung. »Sagen Sie, ein Abgesandter des Württembergischen Staatstheaters sei hier, aus Stuttgart. Es sei dringend.«
Der Portier sah Dahlmann mit leicht offenem Mund nach. Ein Herr aus Stuttgart. Vom Staatstheater. Von der Konkurrenz. Und dann eine Zigarre und ein Geldschein ... das war ein ganz neues Erlebnis in vierzigjähriger Theaterlaufbahn als Bühneneingangportier. Das war sicherlich eine moderne Einstellung zum Personal. Es war ja bekannt, daß die Leute im Süden ein moderneres Theater spielten als im Norden.
Geduldig wartete Dahlmann über eine halbe Stunde. Dann sah er Robert Sanden in die Kantine kommen, noch im Kostüm des Learschen Bettlers, zerlumpt, mit Stroh im Haar wie sein wahnsinniger Herr, der König. Er sah sich um; als er Dahlmann sitzen sah, straffte sich seine Gestalt. Mit festen Schritten kam er auf ihn zu. Dahlmann blieb sitzen, die Hände um das Glas Bier gelegt.
»Ich hätte mir denken können, daß kein Herr aus Stuttgart unangemeldet kommt«, sagte Sanden abweisend. »Andererseits paßt es zu Ihnen, sich hinter anderen zu verstecken.«
»Vergessen Sie, daß Sie auf der Bühne stehen«, sagte Dahlmann ironisch. »Reden Sie wie ein normaler Mensch. Das hier ist keine Rolle, es ist tiefster Lebensernst.«
»Was wollen Sie von mir?« Sanden blieb stehen, auch als ihm Dahlmann einen Stuhl hinrückte.
»Ich will Sie zunächst fragen, wie Sie sich das mit meiner Frau denken!«
»Ich liebe sie.«
»Das ist nett gesagt!« Dahlmann umkrallte das Bierglas. »Jeder andere Mann würde Ihnen eine 'runterhauen wegen dieser Frechheit, das einfach ins Gesicht zu sagen.«
»Ich habe Ihnen auf Ihre klare Frage nur die nötige klare Antwort gegeben.«
»Und damit meinen Sie, sei alles klar?!«
»Ja.«
»Sie halten es für richtig, einfach eine Frau zu lieben, ohne zu fragen, ob sie verheiratet ist, ja, das stört Sie nicht im geringsten! Sie setzen sich über alle Moralgesetze hinweg, Sie zerbrechen eine Ehe, und wie ich sehe, sind Sie sogar auch noch stolz darauf.«
»Ich liebe Luise ... und das allein ist wichtig! Moral war von jeher ein Mäntelchen für die Bigotten, den sie sich umhängten, um ihre eigene Fäulnis zu verdecken.«
»Das ist ja eine herrliche Ansicht!«
»Ich begreife eine moralische Entrüstung gerade von Ihrer Seite aus nicht.«
»Daß ich Luise auch liebe, ist Ihnen nie in den Sinn gekommen?!«
»Aber ja. Meines Erachtens liegt es an Luise, für wen sie sich entscheidet.«
»Nach dem Urteil des Paris nun das Urteil der Helena?! Halten Sie mich für einen Bajazzo, Sanden?! Es ist überhaupt von mir eine ungeheure Selbstbeherrschung, hier mit Ihnen über solche Dinge zu sprechen, als sei es ein Kuhhandel, statt Sie an die Wand zu werfen und einen Skandal zu entfesseln, der Ihnen Ansehen und Stel-lung kosten würde!«
»Was hätten Sie davon?« Robert Sanden war ganz ruhig. In seinem Bettlerkostüm sah er zerknittert und vergrämt aus. »Glauben Sie, dadurch gewännen Sie Luise zurück?«
»Luise ist . ist Ihre Geliebte?«
»Für diese Frage müßte ich Ihnen als Ehrenmann eine herunterhauen.«
»Ich habe ein Recht auf Wahrheit!«
»Fragen Sie Luise.«
»Sie gestand es mir ja.«
»Wenn Luise es Ihnen sagte, sehe ich keinen Anlaß, es zu dementieren.«
Dahlmann legte seine Fäuste auf den Tisch. Sie bebten vor verhaltener Wut.
»Fünfundzwanzigtausend«, sagte er hart.
»Wie bitte?« Sanden beugte sich vor.
»Ich biete eine wirtschaftliche Sicherheit.«
»Sie wollen Luise von mir abkaufen?«
»Ich will Ihnen die Torheit ersparen, sich einer Frau wegen zu ruinieren. Außerdem will ich Luise schützen. Sie ist blind, und sie wird immer blind bleiben. Es gibt keine Heilungsmöglichkeiten mehr. Wir haben alles unternommen. Luise wird also immer Pflege brauchen, sie wird nie mehr ein vollgültiger Mensch sein . und ich möchte sie davor bewahren, von Ihnen betrogen und weggeworfen zu werden, wenn Sie ihrer überdrüssig geworden sind. Bei Menschen Ihres Berufes geht das schnell. Ihre mangelnde Moral haben Sie ja bereits unter Beweis gestellt.«
»Man sollte vor Ihnen ausspucken!« sagte Sanden erregt.
»Dreißigtausend.«
»Gehen Sie!«
»Ich warne Sie, Sanden.«
»Ich habe keine Angst vor Ihnen.«
»Ich schrecke vor nichts zurück.«
»Alles, was Sie gegen mich tun, richtet sich auch gegen Sie! Luise würde Ihnen nie verzeihen -«
Dahlmann biß die Zähne zusammen. Sanden sprach aus, was Dahlmann immer gedacht hatte. Es lag allein an Luise, wie das Leben weiterging. Es hatte immer an Luise gelegen ... vom ersten Tage an. Immer war er nur ein Anhängsel gewesen, ein Bierzipfel, den man von einer Tasche in die andere schob, wenn man den Anzug wechselte.
Das muß ein Ende haben, dachte Dahlmann. Ein schnelles Ende, und wenn es voller Schrecken ist. Und man müßte bescheiden sein ... der große Wurf war nicht gelungen, das Kapital, das die plötzliche Blindheit Luises bedeutete, war in seinen Händen zerronnen, und er stand vor einem Rätsel, wieso so viele Dinge geschehen konnten, die zu einer Mauer zwischen ihm und Luise wurden, Dinge, an die man vorher nie gedacht hatte und die im Leben Dahlmanns utopisch schienen. Er war in ein Labyrinth geraten und irrte nach dem Ausgang. Er verstand es einfach nicht.