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Sie muß weg, dachte er immer wieder. Monika muß weg. Er hatte nie geglaubt, wie schwer es ist, einen Menschen völlig verschwinden zu lassen, so restlos aus der Welt zu bringen, daß er nie wieder entdeckt wurde. Wenn man ihm das früher erzählt hätte, würde er gelacht haben. Nichts einfacher als das... die Welt ist groß genug, um einen einzelnen Körper zu verstecken. Nun saß er hilflos vor einer Leiche und wußte nicht, was er mit ihr anfangen sollte.

Das einfachste war das Vergraben. Irgendwo in der Tiefe des Waldes, unter weichem Humusboden . oder das Versenken im Moor . es war nur eine Fahrt von zwei Stunden, bis er die einsamen, von ewiger Melancholie überschatteten Sümpfe erreichte . über die Autobahn bis Fallingbostel, dann über Walsrode, Visselhövede und Rotenburg nach Zeven . von dort war der Weg frei in verschiedene Moore, in weite Landstriche, deren Einsamkeit nur von den schmalen Moorkanälen unterbrochen wurde. Hier konnte man einen Körper für immer versenken . die breiige Tiefe gab ihn nicht mehr her . vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren, wenn man diesen Teil des Moores trocken legte und begann, Torf zu stechen. Aber wer erinnerte sich da noch an eine Monika Horten . und einen Ernst Dahlmann gab es dann auch nicht mehr.

Der Gedanke an das Moor ließ Dahlmann nicht mehr los. Nur durfte er Monika dabei nicht ansehen. Ihr schöner Körper in der fauligen Tiefe eines Sumpfes .ihr schönes Gesicht mit den goldenen Haaren, versinkend im grundlosen Brei aus Erde und Pflanzen und schlammigem Wasser . es war ihm unmöglich, weiterzudenken, und doch war es die einzige Möglichkeit; Monika für immer aus dieser Welt zu schaffen.

Für Dahlmann war es klar, daß es jetzt für ihn auch nur um das nackte Leben ging, um einen Abgang von der Bühne einer von ihm geschriebenen Tragödie, der ihn, den Hauptakteur, nicht mit in den Strudel hinabriß. Es mußte ein stilles Verschwinden sein. Einlösung der beiden Blankoschecks, von denen Luise nichts mehr wußte (sie waren ein Jahr alt, und damals hatte Dahlmann ihre Hand geführt, da sie die Schecks unterschrieb), es konnten immerhin 45.000 Mark sein, die er aus den beiden Konten herausziehen würde, nicht viel, aber für einen neuen Anfang irgendwo in der Welt mußte es reichen. Eine Flugkarte nach Zürich . von dort mit dem Zug nach Mailand, von Mailand mit dem Bus nach Genua, von Genua mit dem Schiff nach Südamerika . ein glatter Weg, zu dessen Vorbereitung er vier Tage brauchte. Nur noch vier Tage . und der Vorhang konnte fallen über das erste Leben des Apothekers Ernst Dahlmann, der für eine Sünde zuviel Ordnung, Moral und Gewissen eintauschte. Was das zweite Leben bringen würde, wer konnte es vorher wissen? Eine neue Sünde? Oder eine ewige Flucht vor der Erinnerung? Ein ständiges Verstecken vor der Vergangenheit? Niemals Ruhe, niemals Freude, niemals ohne Angst? War das ein zweites Leben.?

Ernst Dahlmann wischte sich über das Gesicht. Kalter Schweiß überzog ihn.

Ins Moor, dachte er wieder. Es bleibt kein anderer Weg. Sie muß ins Moor. Er stand auf und tappte mit schweren Füßen zu dem Alkoven. Wie Blei lag es in seinen Gliedern, jeder Schritt war ein Schleppen von Zentnergewichten. Er zog den bunten Vorhang wieder vor das Bett, löschte die Petroleumlampe und verschloß hinter sich die dicke Bohlentür. Im Freien, nicht mehr umgeben von dem süßlichen Geruch, atmete er ein paarmal tief durch und schwankte zu seinem Wagen.

Man muß das alles genau planen, dachte er. Man kann nicht einfach mit der Leiche im Kofferraum durch die Gegend irren und sich ein Moorstück aussuchen. Man muß wissen, wo der Sumpf tief ist, wo nie oder selten ein Mensch hinkommt, wo man auf Jahrzehnte hinaus nicht daran denkt, Torf zu stechen oder zu kultivieren.

Jetzt sah er auf die Uhr. Die Zeit rast ... früher war sie sein Verbündeter gewesen ... nun wurde auch sie zu seinem Feind. Vier Tage sind nichts für alles das, was er zu tun gedachte. Ein Tag davon war schon zur Hälfte herum, und er hatte nichts getan als dagesessen, einen toten Körper angestarrt und sich bemitleidet.

Bevor er abfuhr, sah er noch einmal auf die einsame Waldhütte. Wieder packte ihn ein kalter Schauer, eine würgende Angst. Er jagte aus dem Wald hinaus, über die halbzugewachsene Schneise, den Feldweg, die sandige Straße und hinauf auf die Chaussee. Erst am Stadtrand Hannovers wurde er ruhiger.

In der Wohnung erwarteten ihn Luise, Dr. Ronnefeld, Dr. Kutscher und Julius Salzer. Sie saßen da wie ein Femegericht, ernst und ihn anstarrend, als er eintrat. Ernst Dahlmann sah zuerst Dr. Ronnefeld und krauste die Stirn. Dann bemerkte er Salzer, und er wußte, daß es ernst wurde.

»Sie, Doktor?« sagte Dahlmann arrogant. »Habe ich vergessen, Ihnen eine Rechnung zu bezahlen? Das hätten Sie auch schriftlich anmahnen können, statt sich hierher zu bemühen.«

»Ich bin als Arzt Herrn Salzers hier.«

»Das kümmert mich wenig! Auch Herrn Salzer habe ich nicht eingeladen, ebensowenig wie Herrn Dr. Kutscher. Es sei denn, Sie alle sind von meiner Frau hierher gebeten worden. Dann verlange ich allerdings eine deutliche Erklärung dieser Versammlung mir unangenehmer Gesichter -«

Das klang sehr stolz und sehr verletzend. Dr. Ronnefeld wurde rot, aber die Hand Dr. Kutschers, die sich auf seinen Arm legte, beruhigte ihn etwas. Luise sah ihn durch ihre dunkle Brille groß an. Die Haltung der Blinden gab sie nicht auf. Noch wußte keiner der Anwesenden, daß sie sehen konnte. Aber sie war gewillt, jetzt, in dieser Stunde, die Brille abzunehmen und den letzten Schlag zu versetzen, der Dahlmann vernichtete.

»Wo ist Monika?« fragte sie mit fester Stimme.

»Wie soll ich das wissen?« Dahlmann hob die Schultern. »Ich bitte dich, Luiserl . deine Schwester läuft einfach weg, und ich soll mich noch um sie kümmern wie eine Amme? Sie ist alt genug. Überhaupt sollte dieser Herr dort wissen, wo sie ist.«

»Sie ist nicht in Soltau!« schrie Julius Salzer. »Aber bei Ihnen war sie zuletzt!«

»Anscheinend nicht. Sonst wäre sie ja noch hier! Es scheint überhaupt in der Familie Horten zu liegen, daß die Töchter auswärts übernachten.« Das war eine Anspielung auf Luise und Sanden. Dr. Kutscher fiel sofort ein.

»Lassen Sie den Quatsch, Dahlmann. Das gehört nicht hierher.«

»Und ob das hierhergehört!« rief Dahlmann. »Ich möchte Ihre Reaktion sehen, wenn Ihnen Ihre Frau eröffnet, daß sie einen Geliebten hat!«

»Ich würde mich scheiden lassen.« Dr. Kutscher lächelte breit. »Ich bin hier, um das einzuleiten. Oder wollen Sie nicht? Ihre Frau verzichtet auf jeden Sühnetermin ... sie nimmt die volle Schuld auf sich!

Was wollen Sie mehr?«

Dahlmann wurde es heiß. Noch dreieinhalb Tage, dachte er. Ich muß die Post durchsehen, wie hoch die Kontenstände sind. Ich werde sie bis auf den letzten Pfennig leer machen.

»Wir werden noch darüber reden, Doktor. Nächste Woche. Im allgemeinen bin ich einverstanden.«

Luises Kopf fuhr vor. Auch Dr. Kutscher richtete sich verblüfft auf.

»Sie willigen in die Scheidung ein?«

»Ja. Über Einzelheiten müssen wir noch sprechen.«

»Natürlich.«

Luise nagte an der Unterlippe. Die Bereitschaft Dahlmanns war ihr willkommen, aber andererseits unheimlich. Sie mußte einen tieferen Grund haben als die Beleidigung, die ihr Verhältnis, ihr angebliches Verhältnis zu Sanden, für ihn bedeutete. Vor allem war es undenkbar, daß er den Kampf um das Vermögen der Hortens aufgab, einen Kampf, den er bisher mit teuflischer Phantasie geführt hatte.

»Wo warst du?« fragte sie.

»Das interessiert dich noch?« fragte er zurück.

»Ja.«

»Ich bin durch Hannover gerast. Kreuz und quer. Ich habe irgendwie in der Raserei eine Erlösung gesucht. Du weißt gar nicht, was du mir angetan hast. Luiserl. Ich hatte einen Augenblick den Gedanken, den Wagen in voller Fahrt gegen eine Mauer prallen zu lassen.«

Luise schwieg. Sie sah sein zerknittertes, bleiches, wie aufgeweichtes Gesicht. Was hat ihn innerlich so zerstört?, grübelte sie. Der Zusammenbruch unserer Ehe kann es nicht sein, denn sie ist vor über einem Jahr schon zerbrochen. Der Verlust des Geldes . das höhlt ihn nicht innerlich aus. Monika? Kann er den Weggang Monikas nicht verschmerzen?