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Kaum war die Wohnung leer, rannte Luise ins Schlafzimmer. In der Kommode und dem Schrank suchte sie etwas, sie wußte, daß es noch vorhanden war und daß Dahlmann es kannte. Endlich fand sie den Gegenstand im Kofferraum, einem kleinen Anbau neben dem Bad, in dem die Koffer aufbewahrt wurden. Sie legte den Gegenstand deutlich sichtbar auf den Sessel in der Blumenecke, stellte dann das Radio an und setzte sich, wie sie es als Blinde immer getan hatte, vor das Gerät, den Kopf etwas zur Seite geneigt, genau gegenüber dem großen Blumenfenster.

Jetzt wird er sich verraten, dachte sie. Hier kommt etwas auf ihn zu, was er mit keiner Selbstbeherrschung überwinden kann.

Sie drehte das Radio etwas leiser, als sie die Dielentür zuklappen hörte. Er kommt, dachte sie. Und gleich wird er es sehen.

Ernst Dahlmann lauschte erst an der Tür des Zimmers. Die Musik war von Mozart, Hochzeit des Figaro. Aber sonst hörte er keine Stimmen . nicht das polternde Organ Dr. Kutschers, nicht die etwas helle Stimme Salzers. Auch die Garderobe war leer, wo die Mäntel gehangen hatten. Luise schien allein zu sein. Endlich allein!

Er öffnete die Tür. Das große Zimmer war leer, Luise saß wie seit Monaten am Radio, die Hände auf der Sessellehne, mit geneigtem Kopf, und ließ sich von den Klängen einfangen.

Dahlmann räusperte sich. Luise fuhr etwas hoch und hob den Kopf.

»Ernst?«

»Ja, Luiserl.«

»Du hast mich erschreckt.«

»Bitte verzeih.« Er blieb an der Tür stehen, unschlüssig, was er nun tun sollte. Ob er es wollte oder nicht . die Wand, die Robert San-den hieß, war aufgerichtet und stand zwischen ihm und Luise. Eine

Wand, die wohl die Stimme hinüberließ, aber keinerlei Berührung mehr. »Dein Besuch ist weg?«

»Ja. Schon seit einer halben Stunde.«

»Wie konntest du mir das bloß antun. Luiserl?!« sagte er heiser.

»Was?«

»Die Sache mit Sanden.«

»Du warst bei ihm?«

»Ja.«

»Ich weiß. Er hat mich angerufen. Du wolltest mich abkaufen.«

»Ich habe mit allen Mitteln um dich gerungen, Luiserl. Selbst die schäbigste Art, Geld zu bieten, war mir nicht blöd genug. Ich habe mich bis zum Tiefsten erniedrigt. Aber du willst nicht mehr.«

»Nein, Ernst.«

In diesem Augenblick fiel sein Blick auf den Sessel in der Blumenecke. Seine Augen wurden starr, sein Kinn klappte herunter, als spränge es aus den Sehnen.

Auf dem Sessel lag eine Handtasche. Monikas weiße Handtasche. Er erkannte sie sofort . sie war das erste Geschenk, das er ihr gemacht hatte, damals, im Frühsommer, als sie eine Welt vor sich sahen, die in einen rosa Schleier gehüllt schien. Nun lag sie hier . auf einem Sessel, in dem vorhin Dr. Ronnefeld gesessen hatte.

Dahlmann wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und starrte dann wieder auf den Sessel. Es war keine Täuschung. Monikas Handtasche lag dort, und vor einer halben Stunde hatte sie noch nicht dort gelegen. Luise schob den Kopf etwas vor, wie es Blinde immer tun, wenn sie angestrengt lauschen.

»Ist etwas, Ernst?« fragte sie. »Du bist so still.«

Dahlmann schluckte krampfhaft. »Nein, nichts, Luiserl.« Seine Stimme klang hohl und wie durch ein langes Rohr gerufen. »Du warst die ganze Zeit allein?«

»Nachdem die Herren weggingen? Ja. Warum?«

»Ich meine bloß.« Er ging zu dem Sessel, hob die Tasche auf und öffnete leise den Verschlußbügel. Sie war leer bis auf ein Taschentuch und ein Portemonnaie, in dem sieben Mark lagen. Ein Lip-penstift war in einer Seitentasche und eine Fahrkarte der Straßenbahn. Fast ein Jahr alt.

Dahlmann sah sich um. Er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte in der Diele nach oben, die Treppe hinauf zum Atelier. Er hörte nichts ... nur die Musik Mozarts umgaukelte ihn. Dann hörte er Luise rufen und rannte zurück in das Wohnzimmer.

»Wo bist du denn?« fragte sie erstaunt. »Warum läufst du denn hinaus?«

»War wirklich niemand hier? Hast du nichts gehört? Schritte.« Seine Stimme war heiser vor Aufregung. Das ist doch nicht möglich, dachte er. Das ist einfach nicht wahr. Monika ist tot. Sie liegt kalt und steif in einem Alkovenbett mitten im Wald. Ich bin kein Arzt, aber ich kann feststellen, ob ein Mensch lebt oder nicht. Ich kann einen Puls fühlen, ich weiß, was eine Leichenstarre ist. Und ein Körper, der nicht mehr atmet, ist tot . und Monika war tot . tot . tot.

Und nun liegt ihre Tasche hier.

»Schritte?« Luise hob lauernd den Kopf. »Ja ... doch ... ein leises Tapsen . Ich dachte, es wäre die Katze. Ist etwas, Ernst? Du machst mir Angst.«

Sie spielte ihre Rolle vorzüglich ... sie streckte beide Arme hilfesuchend aus, sie zitterte und bettelte stumm um Schutz. Dahlmann war weit davon entfernt, nun noch den liebevoll sorgenden Ehemann herauszustellen. Er warf die Tasche auf den Sessel zurück und ballte erregt die Fäuste.

Ein Tapsen ... wie von einer Katze. Wer war hier durch das Zimmer geschlichen . wer hatte die Tasche dorthin gelegt? Monika selbst . das war unmöglich. Das war zu unwahrscheinlich, um überhaupt mit diesem Gedanken zu spielen. Und doch kam Dahlmann immer wieder auf ihn zurück. Kein anderer konnte an diese Tasche kommen, ja, in der Rekapitulation der letzten Stunden glaubte er sogar, zu wissen, daß Monika diese Tasche um den Arm hängen hatte, als sie zuletzt hier im Zimmer gewesen war . und er hatte die Tasche mit in die Decke gerollt, das wußte er ebenfalls ganz ge-nau.

Und nun lag sie hier! Dahlmann setzte sich schwer und biß sich in die rechte Faust.

Das ist unmöglich, dachte er immer wieder. Das ist völlig unmöglich. Er glaubte so fest daran, gerade diese Tasche zuletzt bei Monika gesehen zu haben, daß aus seinem inneren Zureden unmöglich . unmöglich . langsam die Frage wurde: Wie ist es möglich?!

Eine Frage, die nur eine Antwort zuließ: Er mußte sich überzeugen, ob die Waldhütte leer war.

Zunächst ging er hinauf in das ausgeräumte Atelier. Hier hatte sich nichts verändert, ein kahler, verwohnter, häßlicher Raum, in dem nichts mehr an den Zauber erinnerte, den er einmal ausströmte. Anschließend durchsuchte er das Schlafzimmer, die Küche, sein Herrenzimmer, das Gastzimmer . nirgendwo sah er eine Spur, daß Monika hier gewesen war.

Als er zurückkam ins Wohnzimmer, fand er den Sessel, in dem Luise gesessen hatte, leer. Das Radio lief noch. Immer noch Mozart. Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich.

»Luiserl!« rief er. Und dann lauter, in die Küche rennend und in das Schlafzimmer, in dem er gerade gewesen war. »Luise! Luise!«

Die Wohnung war leer. Er riß alle Türen auf. jagte die Treppe hinunter in die Apotheke . die Angestellten wunderten sich, daß ihr Chef wie ein Irrer durch die Räume lief, zum Hinterhof, auf die Straße . zurück . hinauf in die Wohnung . ins Atelier, unter das Dach. Das Rätsel blieb, und seine Panik wurde unerträglich: Luise war nicht mehr da! Während er oben im Atelier gestanden hatte, war sie von jemandem abgeholt worden. Anders war es nicht möglich . als Blinde konnte sie allein in dieser kurzen Zeit sich nicht weit getastet haben.

Hatte Monika sie abgeholt?!

Dahlmann spürte, wie sein Gehirn brannte und er im Begriff war, wahnsinnig zu werden. Er riß seinen Mantel von der Garderobe und rannte hinaus. Wenig später schoß sein Wagen aus der Garage und schleuderte fast auf die Straße.

An der gegenüberliegenden Ecke drehte Dr. Kutscher den Zündschlüssel um. Luise, die neben ihm saß, umklammerte seinen Arm.

»Da ist er!« sagte Dr. Kutscher und löste die Handbremse. »Meinen Sie wirklich, daß er etwas weiß?«

»Ja. Ich bin Ihnen ja so dankbar, daß Sie zurückgekommen sind, Doktor.«

»Ich hatte, ehrlich gesagt, Angst! Ich wollte sehen, ob alles in Ordnung ist. Himmel, hat der ein Tempo drauf. Daß Sie diese idiotische Fahrerei nicht sehen können, ist ein Glück.«