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Eine Perfektion vom Verschwinden eines Menschen, die so einfach war, daß sich Dahlmann wunderte, warum noch niemand auf diesen Gedanken gekommen war.

Kurz vor ein Uhr nachts begann der letzte, für Dahlmann schwierigste Teiclass="underline" Er mußte den starren Körper Monikas wieder in die Decke rollen und sie zum Wagen tragen. Noch einmal sah er sie an, und sein Herz stockte bei der Erinnerung, wie glühend diese blassen Lippen hatten einmal küssen können, wie warm der schöne Körper gewesen war, wie anschmiegsam, wie voller Lebensgenuß. Dann schlug er die Decke über das Gesicht, verschnürte das Bündel wieder und trug es ächzend hinaus. Sie schien ihm jetzt schwerer als vorher zu sein . das Rätsel, warum Tote schwerer sind als Lebende, beschäftigte auch ihn. Mit Mühe - weil er die Beine nicht anwinkeln und das >Paket< nicht knicken konnte - brachte er sie auf den Rücksitzen unter und schlug die Tür zu.

Über eine halbe Stunde verwandte er darauf, alle Spuren zu verwischen. Als er die Hütte abschloß, war sie wieder so, wie er sie übernommen hatte.

Es war nicht mehr nachweisbar, daß in den letzten Tagen ein Mensch hier gewesen war. Es würde nie nachweisbar sein, daß in dem Bett eine Tote gelegen hatte.

Das wußte nur Gott . und ihn konnte man nicht fragen.

Niemand sah den Wagen, der gegen vier Uhr morgens über den schmalen festen Weg holperte, auf dem sonst die Moorkarren fahren. Niemand sah auch den Mann, der mit einer Deckenrolle über dem Rücken den festen Weg verließ und den Spuren der hochrädrigen, leichten Wägelchen nachging, die bis an die Grenze des begehbaren Bodens rollen.

Auch Dahlmann tastete sich mit seiner Last so weit in das Moor hinein, bis er spürte, wie der Boden unter ihm schwankte und schwebte und das Moorwasser ihm oben in die Schuhe lief. Da blieb er stehen und ließ die Deckenrolle von der Schulter rutschen.

Über dem Moor lag Nebel in dünnen, schwebenden, wie aus weißgrauer Seide gesponnenen Schleiern. Einzelne Schwaden zogen träge auf ihn zu, überwehten ihn und trugen den Geruch von Fäulnis und nasser Erde weiter ins Land.

Dahlmann schauderte und sah über das einsame, schwermütige und geheimnisvolle Land. Es sah so friedlich aus... und zwei Schritte weiter war es gnadenlos, grausam und feindlich. Ein lautloser Tod ... vielleicht nur ein Schmatzen des Sumpfes, wenn er sich über dem Körper schloß, das Schmatzen eines satten Todes.

Er blickte sich um und suchte einen harten Gegenstand, den er vor sich in das Moor werfen wollte, um zu sehen, wie weich der Boden war und wie schnell er einen Körper in sich hineinsaugte. Da er nichts fand, nahm er seine goldene Armbanduhr ab und warf sie vier Schritte weit von sich. Sie klatschte auf. und dann war es, als öffneten sich wulstige Lippen, umfingen die Uhr und verschluckten sie . nicht schnell, sondern langsam, ganz allmählich, millimeterweise, genußvoll fast . ein Aufsaugen, ein Vergehen.

Dahlmann starrte auf seine Uhr, bis sie im Moor versunken war. Er konnte sich keinen Begriff machen, wie tief der schwabbende Boden war. Zweifel kamen in ihm auf, daß ein menschlicher Körper völlig in ihm verschwinden könnte. Er erinnerte sich, daß einmal eine Kuhherde im Moor versunken war; er dachte an die vielen Geschichten, die er über Sümpfe gelesen hatte . ein ganzes Fahrzeug mit Pferden und Lenkern sollte einmal spurlos im Teufelsmoor verschwunden sein. Er hatte das immer als eine Sage angesehen, und auch jetzt, am Rande des lautlosen Todes, glaubte er nicht daran, daß es tief genug sein würde, um ewiges Schweigen über die Schuld des Ernst Dahlmann zu decken.

Um eine neue Probe zu machen, ging er zurück zum Wagen und holte seinen Wagenheber aus dem Kofferraum. Er warf auch ihn neben der Uhr in den schwabbenden Boden . und dieses Mal war der Mund gieriger . er umschloß den schweren Wagenheber mit gurgelnden Lauten und verschluckte ihn in weniger als zehn Sekunden. Dahlmann, ohne seine Uhr, zählte sie nach militärischer Art . einundzwanzig . zweiundzwanzig . dreiundzwanzig . Bei der zehnten Sekunde lag die Moorfläche glatt und ruhig wie vorher da, ein lauernder Moloch von trauriger, nebelschleierumwehter Schönheit.

Im Osten zeigte sich am weiten Horizont ein schwacher, hellgrauer Streifen, die Ahnung eines kommenden Tages, ein Hauch von Licht. Durch Ernst Dahlmann zog ein heftiges Frieren und Schütteln. Es gab kein Zurück mehr . die Trennung in das Ewige mußte geschehen.

Dahlmann hob die Decke mit Monika wieder über seine Schul-ter. Er versuchte, ob es möglich sei, sie mit beiden Armen von sich wegzustoßen und ein paar Meter weit hinein ins Moor zu werfen. Aber der zarte Körper war zu schwer, oder ihn hatten die Kräfte verlassen . es war unmöglich, Monika zu halten, die Deckenrolle rutschte ihm aus den Armen weg und stieß wieder auf den Weg.

Kalter Schweiß brach Dahlmann aus. Er drückte die Hand in den Rücken, reckte sich und griff wieder zu. Ächzend bückte er sich, schob die Rolle über seine Schulter und richtete sich auf. Er schob sie so zurecht, daß sich das Gleichgewicht nach vorn verlagerte ... dann schleuderte er von der Schulter aus, mit beiden Händen nachdrückend, die Tote in das Moor hinein. Der Schwung war so groß, daß er selbst mitgerissen wurde, nach vorne stürzte, auf die Knie fiel und mit ausgebreiteten Armen auf dem schwabbenden Boden lag.

Als er sich aufstützen wollte, fühlte er, wie der Boden unter seinen Händen nachgab, wie er in einen faulig riechenden Erdpudding griff, wie seine Finger sich im Breiigen verloren. Einen Augenblick war er versucht, zu schreien. Entsetzen ergriff ihn, Todesangst, winselnde Feigheit. Er preßte die Knie zusammen und spürte, daß der Boden unter seinen Beinen hart war, daß seine Brust noch auf fester Erde ruhte, daß es nur die Arme und Hände waren, die ins Moor reichten, in die saugende, alles verschlingende weiche Tiefe.

Er kroch zurück wie ein Molch und wagte erst dann, sich aufzurichten, als er beim Rundumtasten überall harten Grund fühlte. Zitternd stand er dann da, mit Lehm und schwarzem Moorbrei beschmiert. In seinem Kopf summte und rauschte es, vor den Augen drehten sich die Nebel und wurden von blauen, gelben und roten Punkten durchtanzt. Wenn man sich irgendwo anlehnen könnte, dachte er. Ausruhen, tief atmen, die Augen einen Moment schließen und an nichts denken. Aber um ihn herum war Moor, er stand auf einem schmalen festen Wegstreifen, Schilf und Gras wuchs neben ihm, aber kein Baum, an den er sich lehnen konnte, nicht einmal ein Strauch mit einigen biegsamen Ästen, an die man sich anklammern konnte.

Vor ihm versank langsam die Deckenrolle. Er starrte auf den Sumpf, wie er Monika in sich hineinzog. Es war ein Anblick, der ihn erschaudern ließ, aber er wandte das Auge nicht davon ab, es war ein Abschied von Monika für immer.

Er wartete, bis sie völlig versunken war und die Oberfläche des Moores wieder glatt war. Dann ging er langsam zurück zum Wagen und fuhr, mit einem Gefühl von Übelkeit im Magen, nach Hannover. Der Moorschmutz an seinem Anzug trocknete ab . kurz vor der Abfahrt von der Autobahn in die Innenstadt hielt er an einer Raststelle, klopfte seinen Anzug ab, säuberte die Hosenaufschläge von Pflanzenresten und die Schuhe vom festgeklebten Schlamm. Als die Geschäfte um acht Uhr öffneten, kaufte er sich einen neuen Anzug, zog sich in der Probierkabine gleich um und brachte den flek-kigen Anzug zur Reinigung. Expreß, bestellte er. In drei Tagen würde er ihn wieder brauchen.

In seiner Wohnung fand er Fräulein Erna Pleschke vor. Sie war bestellt worden, wie jeden Tag zu kommen. Dahlmann begrüßte sie brummend und ging ins Zimmer. Fräulein Pleschke konnte er am wenigsten gebrauchen; außerdem wußte er nicht, was sie hier sollte. Es war nicht denkbar, daß Luise spazierenging, wenn man ihre Schwester suchte.

»Bist du es, Ernst?« fragte Luise. Sie saß blaß und übermüdet in der Blumenecke. Ihre Augen brannten unter den dunklen Gläsern und tränten etwas. Mit letzter Kraft kämpfte sie gegen eine ohnmachtähnliche Müdigkeit an. Daß sie, im Sessel sitzend, eine Stunde geschlafen hatte und durch die Geräusche, die Fräulein Plesch-ke verursachte, geweckt wurde, wußte sie nicht. Sie glaubte, sie wäre nur ein wenig eingenickt.