Ernst Dahlmann setzte sich. Luise musterte ihn. Er hat einen neuen Anzug an, dachte sie. Was soll das bedeuten? Wo kommt er jetzt her? Aber sie fragte ihn nicht danach. Sie hatte sich ein anderes Mittel ausgedacht, Dahlmann zum eigenen Verräter werden zu lassen. Auf Fragen würde er immer eine Antwort wissen ... man mußte ihn überraschen, ihn plötzlich treffen, so wie es mit der Handtasche Monikas gelungen war. Nur ging dieser Schuß ins Leere, weil Dahlmann schneller war als seine Verfolger.
»Ja. Ich bin's, Luiserl.« Er lehnte sich weit zurück und sah an die Decke. Die Morgensonne stach grell durch das breite Fenster. Ein schöner Herbsttag begann . vielleicht war es der letzte in diesem Jahr. In Bayern lag schon Schnee, von Schweden wurde das gleiche gemeldet. Es würde nicht lange dauern, bis auch nach Hannover der Winter gekommen war. Dahlmann genoß die Stille, die Sonne, die Blumenranken, den Duft von Rosen und Dahlien, er genoß es, in einem weichen Sessel zu sitzen, die Beine weit von sich zu strecken und zufrieden zu sein.
Das war er: zufrieden! Wenn er eitel gewesen wäre, hätte er sagen können: Ich habe die Methode des perfekten Mordes entdeckt. Nicht aus Gemeinheit, aus einem verbrecherischen Instinkt heraus, sondern aus der Angst, der Notwendigkeit, einen Menschen spurlos verschwinden zu lassen, dessen Tod man nie, nie gewollt hatte.
Er griff in die Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und begann zu rauchen. Was nun, dachte er dabei. Der zweite Tag der vier Tage ist gekommen. Ich werde mir die Fahrkarte nach Zürich bestellen, einige Koffer packen und sie als Reisegepäck vorschicken. Das fällt nicht auf. wenn sie es später erfahren, wird die Spur verwischt sein.
»Wie hast du geschlafen, Luiserl?« fragte er, um etwas zu sagen und die Stille aufzulockern.
»Gar nicht.«
»Gar nicht? Aber warum denn?«
»Da kannst du noch fragen?«
»Verzeih.« Dahlmann sog an seiner Zigarette. »Du erkundigst dich gar nicht, wo ich diese Nacht gewesen bin?«
»Nein. Du wirst es mir ja auch so sagen.«
»Hast du keine Angst, daß ich dich belüge?«
»Nein. Du hast mich nie belogen.« Luise kam es völlig frei von den Lippen. »Warum sollten wir uns jetzt noch etwas vormachen? Ich war auch ehrlich zu dir, Ernst . wenn du mir sagst, du warst
diese Nacht bei einer anderen Frau ... es berührt mich nicht mehr.«
Luises Kopf flog hoch. Sie sah Dahlmann an ... er war verschwommen, und die Augen tränten wieder, als sie in die Sonne sah. Sie nahm ein Taschentuch, schob es zwischen die Brillengläser und drückte es gegen die Augen. Sie tupfte die Tränen ab. Dahlmann kehrte aus dem Verschwommenen in die Klarheit zurück.
»Aber das war ich nicht. Ich habe Monika gesucht.«
»Du hast Monika gesucht? Wo denn? Keiner weiß doch, wo sie hingegangen ist! Hat sie dir etwas gesagt?«
»Nein. Aber ich bin ein Mensch, der das Systematische liebt. Ich habe sämtliche Hotels abgeklappert.«
»Du hast -«
»Ich wußte gar nicht, daß es in Hannover so viele Hotels, Fremdenpensionen, Privatpensionen und Einzelzimmervermietungen gibt. Ich bin die ganze Nacht herumgesaust, kreuz und quer durch den Stadtplan, und habe gefragt. Ein paarmal hätten sie mich bald verprügelt. Ich bin bis zu den Spelunken hinabgestiegen und hinauf bis auf Dachkammern, die man auch stundenweise vermietet. Von Monika keine Spur. Sie ist entweder nicht mehr in Hannover . oder sie lebt irgendwo privat. Dann kann es nur ein Mann sein.«
»Monika ist keine Hure -«, sagte Luise kalt.
»Das will ich damit auch nicht angedeutet haben! Aber ich denke an diesen blonden Träumer Julius Salzer, der sich Rechte an Monika anmaßt - und wie lange kennt er sie? Ein paar Tage! Das zeugt nicht gerade für ein zimperliches Verhalten deiner Schwester, und jungfräuliche Angst sieht anders aus -«
Luise schwieg. Es war ihr widerlich, darauf zu antworten. Auch glaubte sie ihm nicht, daß er die Hotels abgesucht hatte . er war davongerast, hinaus aus Hannover, nach Osten, und dort irgendwo mußte Monika verborgen sein. Warum sie sich verborgen hielt, konnte Luise nicht erraten, sie sah keinerlei Grund darin, daß Monika ihre Möbel nach Soltau holen ließ und am gleichen Tage vor Julius Salzer sich versteckte. Auch daß Dahlmann sie wieder zu sich hinübergezogen hatte und ihre Hörigkeit wieder ausgebrochen war, hielt sie für unmöglich. Sie kannte ihre Schwester . sie war eine Horten, ein harter Kopf, wenn es sein mußte, vor allem aber unnachgiebig, wenn sie beleidigt wurde. Die Weichheit, die sie in die Arme Dahlmanns getrieben hatte, war Luise deshalb um so rätselhafter. Es gab nur eine Deutung: Dahlmann mußte sie gezwungen, überwältigt haben, er mußte eine Schwäche Monikas ausgenutzt haben . und dann war es hinterher zu spät, sich von ihm zu lösen. Niemand wußte besser als Luise, wie Dahlmann lieben konnte und wie es fast unmöglich war, sich dem Zauber dieser Liebe wieder zu entziehen.
Dahlmann zerdrückte die Zigarette und erhob sich. Luise legte den Kopf zur Seite.
»Du gehst schon wieder?«
»Ja. Ich frage bei der Polizei an, ob die etwas weiß.«
»Sie weiß nichts.«
»Wer sagt das?«
»Dr. Kutscher. Er rief an, kurz bevor du hereinkamst.«
»Verstehst du das, Luiserl?«
»Nein.«
»Hättest du Monika das zugetraut? Schon ihr plötzlicher Auszug aus unserem Hause hat mich verwirrt.«
Du Schuft, dachte Luise.
»Ob sie krank ist?« fragte Dahlmann besorgt.
»Krank?«
»Ich meine . nervlich. So wie Monika benimmt sich doch kein vernünftiger Mensch.«
»Vielleicht sind wir Hortentöchter alle ein bißchen überdreht -«, sagte Luise leise. Dahlmann ergriff ihre schlaffen, kalten Hände.
»Du doch nicht, Luiserl.« Sie entzog ihm ihre Finger durch einen Ruck.
»Ich auch. Denk an das Ticken, das ich immer höre . das furchtbare Tropfen.«
»Aber das ist doch vorbei, Luiserl.«
»Nein! Nein! Heute nacht hat es wieder getickt . immer in Abständen von zwei Sekunden . tick - tack. Ich bin fast irrsinnig geworden.«
Dahlmanns Kopf flog zum Büfett herum. Auf dem Schrank stand seine teuflisch-geniale Konstruktion. Sie war abgestellt, aber sie stand auf dem Büfett. Dahlmanns Hände wurden schweißig und verkrampften sich ineinander. Er wußte ganz genau, daß er den Apparat unten im Privatlabor in einen Schrank eingeschlossen hatte. Er wollte ihn in den nächsten Tagen vernichten, vor seiner Abreise. Er hatte noch einige Glaskolben auf den Tisch gestellt, um Platz im Schrank für den Apparat zu haben.
Nun stand er auf dem Schrank im Wohnzimmer! Er war plötzlich da ... wie die Handtasche von Monika.
»Wer war hier, Luiserl?!« fragte er mit belegter Stimme.
»Hier? Niemand!«
»Du hast nichts gehört?«
»Dieses Ticken, ja.«
»Keine Schritte?«
»Nein.«
»Nicht wieder ein leises Tapsen?«
»Gar nichts, Ernst. Was hast du? Deine Stimme ist so unsicher. Ist eingebrochen worden? Fehlt etwas?« Sie hob den Arm und krallte sich in Dahlmanns Rock fest. »Ich habe solche Angst, Ernst. Du darfst mich nicht mehr allein lassen, hörst du ... du darfst nicht mehr weggehen. War wirklich jemand im Zimmer heute nacht.?«
Es war ein vorzüglicher Monolog. Dahlmann streichelte ihr wie abwesend über das Haar. Dabei sah er auf die Klopfmaschine. Das Rätsel lastete auf seinem Herzen wie ein Bleiklumpen.
»Es war niemand hier, Liebes«, sagte er stockend. »Ich dachte nur. Du mußt dir keine Sorgen machen wegen des Klopfens ... es ist nichts.«