»Ich auch. Du wirst sehen ... es wird alles gut.«
Dahlmann schwieg. Sein Gesicht war gelbweiß, blutleer und alt. Er war in einer Verfassung, die ihn wünschen ließ, er möge die Augen schließen, umfallen und Monika in die Ewigkeit folgen.
Es war eine seelische Schwäche, die nur Minuten dauerte. Als es klingelte und Fräulein Pleschke hereinkam, war der Anfall von Lebensmüdigkeit wieder vorbei.
»Die Polizei ist da, Herr Dahlmann«, sagte Fräulein Pleschke. »Sie möchte Sie sprechen -«
Kommissar Ludwig Faber war ein gemütlicher, dicker Mann, der gerne aß, noch lieber trank und am liebsten eine Zigarre rauchte. Mit seinem berühmten Berliner Kollegen der zwanziger Jahre, dem Kriminalrat Gennat, hatte er somit Statur, Gewicht und Lieblingsdinge gemeinsam ... nur Kuchen, wie ihn Gennat tellerweise gegessen hatte, mochte er nicht. In Hannover wußte jeder, daß der dicke Faber die Mordkommission leitete; seitdem er aus dem Aasee einmal einen Männerkopf gefischt hatte und wie Hamlet in stiller Betrachtung ihn vor sich hinhielt, war er in Fachkreisen sagenhaft. Sein Humor war schwarz und derb . aber wenn er eine heiße Spur hatte, verlor er allen Witz und hetzte den Täter mit der Konsequenz eines hungrigen Löwen, der einer Gazelle nachjagt.
Auch Ernst Dahlmann und Luise kannten Ludwig Faber aus der Presse. Es kostete Luise ungeheure Anstrengung, die Blinde weiterzuspielen, während Dahlmanns Gesichtsfarbe noch fahler wurde.
»Faber -«, sagte der Dicke und hielt einen Ausweis vor. Dahlmann nickte und winkte zu einem Sessel.
»Bitte, setzen Sie sich. Sie sehen mich einigermaßen erschrocken, daß die Mordkommission zu uns kommt.«
»Mordkommission!« schrie Luise auf und tastete nach Dahlmanns Hilfe. »Was ist mit Monika? Hat man Monika gefunden?!« Sie sprang auf. Ihr Aufschrei war echt. Dahlmann drückte sie in den Sessel zurück.
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ich muß Ihnen erklären. Meine Frau ist blind und.«
»Ich weiß.« Faber verbeugte sich kurz vor Luise. »Ich habe von dem Unglück damals gehört. Zunächst eins: keine Sorgen!«
»Also Sie wissen auch nicht, wo sie ist?« Luise schloß die Augen. Faber und Dahlmann verschwammen wieder vor ihrem Blick, die Augen tränten und brannten.
»Nein.«
»Aber die Mordkommission.« Dahlmann schluckte. »Sie werden verstehen, niemand ist begeistert, von der Mordkommission besucht zu werden.«
»Solange mir die Leichen nicht an der Tür entgegenfallen, bin ich ein höflicher Mensch.« Der dicke Faber setzte sich und holte sich eine seiner Zigarren hervor. »Einmal erlebte ich, daß ich einen Lokus suchte, durch die Wohnung irrte, eine Tür aufriß und in eine Besenkammer blickte. Und in der Besenkammer stand eine mumifizierte Frauensperson.«
»Ihre Erzählungen in allen Ehren, Herr Kommissar, und sie mögen in Fachkreisen sicherlich auch geschätzt werden . sagen Sie uns bitte, warum Sie hier sind?!« Dahlmanns Stimme bebte. »Verstehen Sie, daß wir in einer unerträglichen Erregung sind. Meine Frau ist an der Grenze des Erduldbaren.«
Faber brannte sich erst seine Zigarre an, in aller Ruhe, fast zelebrierend. Dabei beobachtete er Dahlmann durch die kleine tanzende Flamme seines Streichholzes. Er ist nervös, dachte er. Er benimmt sich anders als die Verwandten, aus deren Mitte ein Mensch verschwindet. Er lauert auf irgend etwas, er schmort gewissermaßen im eigenen Saft. Lassen wir ihn weiterschmoren.
»Eine Routinesache«, sagte der dicke Faber gemütlich. »Das Vermißtendezernat hat mich um Amtshilfe gebeten.«
»Das tut man nur bei Mordverdacht!«
»Ein plötzliches Verschwinden schließt diese Möglichkeit nie aus. In den Hotels und Pensionen Hannovers ist Ihre Schwägerin jedenfalls nicht. Das wissen wir.«
»Ich auch. Ich habe ebenfalls nachgeforscht.«
»Kleiner Sherlock Holmes, was?« Faber lächelte breit. Aber hinter dieser Freundlichkeit stand eine erbarmungslose Gefährlichkeit. Dahlmann wußte es. Er bezwang sich, mitzulächeln.
»Ich wollte meine Frau damit beruhigen. Vielleicht wäre es doch möglich gewesen, sie zu finden.«
»Natürlich.« Faber rauchte intensiv. »Ich möchte mich bei Ihnen etwas über die Lebensgewohnheiten Ihrer Schwägerin bzw. Schwester erkundigen. Auch aus einer Charakterisierung der Gesamtperson gewinnt man oft verblüffende Einblicke in Motive. War sie sehr schwierig?«
»Nein, nie«, sagte Luise schnell. Dahlmann wog den Kopf. Faber hob die Augenbrauen.
»Sie sind anderer Ansicht?«
»Sie war das, was man kapriziös nennt. Eine Künstlerin. Zu schnellen Entschlüssen neigend, unkompliziert in allen Dingen des täglichen Lebens, sorglos fast, möchte man sagen. Sie lebte, und das war für sie die Hauptsache. Was um sie herum vorging, kümmerte sie wenig. Sie war immer ein wenig wirklichkeitsfremd, wie man es bei Künstlern oft findet. Ein Musentyp.«
»Sie hätten Psychologie studieren sollen, das liegt Ihnen.« Faber lachte gemütlich. »Nach diesem Charakterbild wäre Monika Horten wohl nicht zu Dummheiten, aber doch zu Unbedachtheiten fähig gewesen.«
»Ja. Durchaus.«
»Du kennst Moni nicht.« Luise beugte sich vor. Faber betrachtete seine Zigarrenspitze. Sie hatte einen schönen weißen Brand. Für sechzig Pfennig kann man das verlangen, dachte Faber. Eine Sechzig-Pfennig-Zigarre ist für einen Beamten schon ein Luxusstengel.
»Wieso kennt Ihr Gatte Monika nicht?«
»Nicht so gut wie ich! Monika ist eine Horten. Sie hat einen durchaus realen Sinn für das Leben. Natürlich ist sie Künstlerin . aber sie hat keinerlei Anlage zur Boheme! Im Gegenteil, wenn man sagen kann, daß ein Künstler nüchtern ist, dann war es Monika.« Sie strich sich über die Haare. »Mein Gott... wir alle sagen immer >war< ... sie ist es noch! Wir tun ja, als ob sie schon abgeschrieben ist -«
»Verzeihung.« Faber schob die Unterlippe vor. »Das sind so dumme grammatikalische Verirrungen, die wir an uns haben. Wenn ein Mensch nicht da ist, ist er für uns weg . sehr klug, was?« Er lachte wieder sein joviales, in Fett eingebettetes Lachen. »Sagen wir also ab jetzt >ist<. Also: Fräulein Horten ist real?!«
»Sehr.«
»Luiserl.« Dahlmann blinzelte Faber zu. »Du hast Moni über ein Jahr lang nicht mehr beobachten können. Sie hat sich gewandelt.«
»Nein.«
»Aber ja. Ich war selbst erstaunt über sie. Denk nur an den plötzlichen Auszug.«
»Was für'n Auszug?« hakte Faber schnell hinterher.
»Meine Schwägerin ist plötzlich, von einer Stunde zur anderen, weggezogen. Sie hatte hier im Hause, oben unter dem Dach, wie es sich gehört für einen Maler, ein Atelier. Das hat sie aufgegeben und ist weggezogen. Nach Soltau, wie Sie wissen.«
»Interessant. Und keine Gründe?«
»Nein!« sagte Dahlmann fest. Auch Luise schwieg. Ob sie jetzt sagte, warum Monika fluchtartig gegangen war, oder ob sie schwieg ... es brachte Faber doch nicht weiter. Sie wußte: Die Lösung des Geheimnisses lag bei Dahlmann, allein bei ihm . und auch ein Ludwig Faber würde ihn nicht zum Sprechen bringen. Das konnte nur sie . sie und das Vermögen der Hortens, um das Dahlmann so erbittert kämpfte.
»Merkwürdig.« Faber sah in den Rauch seiner Zigarre.
»Das haben wir auch gesagt. Und in Soltau lernte sie dann einen
Mann kennen.«
»Ach!« Faber kratzte sich die dicke Nase. »Sie kennen ihn?«
»Natürlich. Er war gestern abend noch hier.«
»Hier?«
»Ja. Auch er suchte Monika. Schließlich war er ja ihr freundschaftlicher Begleiter.«
»Das haben Sie sehr charmant ausgedrückt.« Faber legte seine Zigarre auf den Rand des Aschenbechers. Er witterte etwas. »Wie lange kennt Ihre Schwägerin diesen Herrn?«
»Ein paar Tage -«
»O jejeje! Und dann gleich im siebten Himmel?«
»Es scheint so.«
»Wie heißt der Herr?«
»Julius Salzer. Er ist Schriftsteller.«