»Was verliebte Jünglinge immer tun ... ich habe Wache vor dem Hause der Dahlmanns bezogen.«
»Warum haben Sie nicht geschellt?«
»Ich ... ich schämte mich.«, sagte Salzer leise.
»Sie hatten keinen Mut dazu?«
»Auch.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Monika kam nicht heraus. Ich erfuhr ja erst später, daß sie schon längst weggegangen war. Herr Dahlmann fuhr noch einmal weg.«
»Ach! Der fuhr weg? In der Nacht?«
»Nein. Am späten Abend. Aber er kam bald wieder. Frau Dahlmann war ja auch diese Nacht auswärts . er war beim Polizeirevier.«
Faber nickte. Das stimmt, dachte er. Dahlmann hatte für jede Minute einen Beleg. Und ein Alibi, das die Polizei ausstellt, ist bestimmt sicher. Er sah Salzer wieder an und rümpfte die Nase. Es tat ihm leid, aber er mußte es sagen. In über dreißig Berufsjahren hatte er das Unmöglichste Wahrheit werden sehen.
»Sie haben also keinen Beleg, wo Sie nachmittags und die Nacht über gewesen sind?«
Salzer starrte Faber verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«
»Einen Zeugen!«
»Am Bahnhof von Soltau ... wie sollte ich das? Wenn mich keiner der Beamten gesehen hat . oder die Bauern. Ich kann Ihnen keinen nennen.«
»Und in Hannover?«
»Noch weniger. Da stand ich dem Hause Dahlmann gegenüber in einer Türnische.«
»Also völlig ohne Alibi.«
»Wozu brauche ich ein Alibi?« Salzer starrte den dicken Faber groß an. »Sie haben doch nicht etwa denVerdacht, daß ich . ausgerechnet ich.«
»Mein Lieber . beim Militär sagte man: Ich habe schon Pferde kotzen sehen, und das vor der Apotheke. Es tut mir leid, aber der deutsche Beamte ist nun mal stur! Nehmen Sie Ihre Zahnbürste, waschen Sie sich noch einmal die Ohren, und dann kommen Sie mit.«
»Verhaftet.«, stotterte Julius Salzer. »Ich werde verhaftet!«
»Erschrecken Sie nicht! Sie können darüber ein neues Buch schreiben, wenn Sie wieder 'rauskommen. Aber im Augenblick steht es so, daß ich Sie mitnehmen muß!«
»Aber das ist doch völlig absurd! Ich liebe Monika, und gerade ich soll -«
»Sie sollen gar nichts, lieber Dichter! Es hat sich bei uns so eingebürgert, Verdächtige erst einmal zu verhaften und hinter Gitter zu bringen. Sicher ist sicher. Stellt sich ihre Unschuld hinterher 'raus, bekommen sie einen warmen Händedruck. Für Untersuchungshaft gibt es keine Entschädigung, falls Sie damit rechnen sollten. Jeder deutsche Staatsbürger hat sich so zu verhalten, daß er nicht verdächtig wirkt! Tut er es, ist er selbst schuld. Sie sehen - wir Beamten haben Nerven! Auch der dicke Faber. Also . können wir?«
»Ja.«
Salzer ging in den Nebenraum. Er packte ein Ersatzhemd ein, die Zahnbürste und ein Buch über das Leben Lord Nelsons. Dann gingen sie hinunter zum Wagen, wo der Sekretär und der Wachtmeister warteten, belauert von der Wirtin des >Grünen Kruges<. Salzer blieb bei ihr stehen . sie wich vor ihm zurück, als sei er bereits als Mörder überführt. Salzer lächelte schmerzlich.
»Ich bin bald wieder zurück«, sagte er stockend. »Die Beamten tun nur ihre Pflicht.«
Er stieg in den Wagen und blickte nicht zurück, als sie schnell abfuhren. Der Sekretär blieb zurück. Er hatte die Aufgabe, das Wirts-
haus >Grüner Krug< vom Keller bis zum Dachstuhl zu untersuchen, vor allem die Zimmer von Salzer und Monika Horten. Ludwig Faber ahnte, daß irgendwo ein Hinweis war, der ihn weiterbrachte. Vor allem ahnte er, daß es sich hier nicht mehr um eine Vermißte, sondern um eine Tote handelte.
Und Ludwig Faber war berühmt für seine gefühlsmäßigen Verbrecherdiagnosen.
Am Morgen nach Dahlmanns Ausflug zum Moor meldete sich bei der Polizeistation in Hetzwege der Moorbauer Onno Lütje. Er roch stark nach Schnaps, schwankte und lehnte sich gegen den Tisch des Feldgendarms.
»'raus!« sagte der Polizist. »Du bist besupen, Kerl.«
»Jo, isch bin besupen!« Onno Lütje nickte schwer. »Aber so be-supen, daß isch Geister sehe, bin isch nich, nich?!«
»Geister? Wieso?«
»Im Moor -«
»Geh noch Hus und leg disch nieder.« Der Polizist wedelte den Alkoholdunst von seinem Gesicht weg. Onno Lütje blies eine steife Brise gegen den Vertreter der Obrigkeit. Er wackelte mit dem Kopf und umklammerte die Tischkante wie eine Segelstange auf einem sturmgeschaukelten Schiff.
Was er erzählte, war eine Mischung von Trunkenheit und Rätsel.
In der Nacht hatte er bei Karle Budje gesoffen. Einen Köhm, und noch einen, und dann Rum und zuletzt 'nen Klaren. Eine ganze Flasche. Rein aus Kornsaat! Das ging in die Beine und ins Gemüt. Und dann war er nach Hause gewankt, und da es schon spät war, so um die vier Uhr morgens 'rum, kürzte er den Weg ab und schlurfte durch das Moor.
Da hatte er erst zwei große, feurige Augen gesehen, dann einen
Mann mit einem Baumstamm auf dem Rücken . aber die waren plötzlich weg wie verschluckt. Er hatte noch dagestanden und sich gesagt: Onno, Düwel gibt es nicht! Und was die Moormuhme immer verschnackte, das is ja man doch nur olles Spinnertkram. Also war er weitergeschwankt, hatte sich ins Bett gelegt und geschlafen. Am Morgen aber hatte er wieder einen Köhm getrunken, um den Brand zu löschen, und nun war er da, um dem Herrn Gendarmen zu erzählen, daß er den Düwel im Moor gesehen habe.
»Zwei große, feurige Augen.« Onno Lütje hob beschwörend beide Arme hoch empor. »Glaub es mir, Enno.«
Der Feldgendarm setzte sich und packte sein Frühstücksbrot aus. »Ich glaube es dir. Wo war's denn?«
»Im Moor von Hermes-Fiedje.«
»Da ist doch gar kein Weg. Nur ein Pfad, der mitten im Sumpf endet.«
»Eben drum! D'Düwel war es, Enno!«
Onno Lütje lamentierte noch eine Weile auf der Polizeiwache herum, bis er ging. Jedem, den er traf, erzählte er vom Moorteufel, den er gesehen hatte. Und alle, die es hörten, nickten beifällig und lachten. Wenn der Lütjen-Onno einen sitzen hatte, hatte das Dorf einen fröhlichen Tag. Man kannte das.
Auch der Feldgendarm Enno Bollstedt vergaß den Düwel im Moor. Ab zehn Uhr stand er an der Abzweigung zur Autobahn BremenHamburg und kontrollierte Radfahrer, ob sie eine Klingel hatten und der Rücktritt funktionierte. Er kassierte bis zwölf Uhr mittags dreimal fünf Mark Strafgebühren und war mit dem Vormittag sehr zufrieden.
Nur Onno Lütje saß wieder in der Wirtschaft und trank einen Klaren. Die Neumondzeit begann . da kam der Onno so richtig in Tritt.
Seinen Erzählungen lauschte auch ein pensionierter Postinspektor, der in Hetzwege ein Haus geerbt hatte. Für ihn war es nicht das Geschwafel eines Betrunkenen . er merkte sich alles sehr genau.
Zwei große, glühende Augen können zwei Autoscheinwerfer sein, dachte er. Was aber macht ein Auto um vier Uhr morgens mitten im Moor.?
Als Luise aufwachte, wußte sie im ersten Augenblick nicht, wie spät oder wie früh es morgens war. Die Gardinen waren noch vor die Fenster gezogen, es lag ein fahles Halbdunkel im Raum - aber das Bett neben ihr war leer und die Steppdecke zurückgeschlagen. Ernst Dahlmann mußte schon lange aufgestanden sein, denn aus dem Badezimmer hörte sie keinen Laut mehr. Sie wandte sich um und sah auf die kleine Reiseuhr, die auf dem Nachttisch stand.
Acht Uhr morgens.
Verwundert richtete sie sich auf. Aus der Küche hörte sie Tellerklappern. Das Hausmädchen spülte das Geschirr vom Abend. Luise hatte nach dem aufregenden Tag tief geschlafen, so traumlos und fest, daß sie keinerlei Bewegungen oder Geräusche wahrgenommen hatte, als Dahlmann aufstand, sich wusch und wegging.
Sie sprang aus dem Bett und zog die Gardinen zur Seite. Draußen war ein trüber Tag, ein grauer Himmel, graue Häuser, graue Straßen, graue Menschen . ein Herbsttag, den man am besten verschlafen sollte, weil alles eine Farbe hat, deren dauernder Anblick zum immerwährenden Gähnen reizt.