Выбрать главу

Eine halbe Stunde später saß sie am Tisch und trank Kaffee. Das Hausmädchen, das die Kanne hereinbrachte, trug ein leichtes, ausgeschnittenes Kleid und schien zu schwitzen. Luise betrachtete sie unter der dunklen Brille äußerst verwundert. Auch ihr war es aufgefallen, daß die Wärme im Zimmer in einem krassen Gegensatz zu der grauen Herbststimmung vor den Fenstern stand. Es war, als habe jemand die Heizung auf die höchste Stufe gedreht.

»Ist etwas mit der Heizung los, Else?« fragte Luise und tastete nach den fertig geschmierten Brötchen. Das Hausmädchen sah sie an, als verstehe es die Frage nicht.

»Mit der Heizung? Wieso?«

»Es ist so heiß im Zimmer, Else.«

»Ach so. Nein!« das Mädchen lächelte. Aber in diesem Lächeln lag alles Mitleid, das sie fühlte. Sie fühlt es ja nur, natürlich, dachte es. Sie kann ja nicht sehen, wie es draußen ist. Sie sieht weder Sonne noch Regen, Wind oder Nacht. Sie kann es nur ahnen.

»Draußen ist ein verrückter Tag, gnädige Frau. Heißer als im Sommer, und das im Herbst! Im Radio haben sie heute morgen gesagt, daß man so was seit hundert Jahren noch nicht erlebt habe -«

»Es ... es ist draußen heiß.«, sagte Luise leise. Sie setzte die Tasse wieder zurück auf den Unterteller, ihre Hand begann zu zittern. »Und . und die Sonne scheint.«

»Ja! Und wie! Grell sogar. Wenn das heute mittag kein Gewitter gibt.«

»Und keine Wolken?«

»Nein. Keine!«

»Wo ist mein Mann?«

»Der gnädige Herr ist schon früh weggegangen. In die Stadt, wie er sagte. Er ist zu Mittag wieder da. Ich sollte Sie nicht wecken, gnädige Frau, und.«

»Es ist gut, Else. Es ist gut. Ich läute, wenn Sie abräumen können.«

Luise wartete, bis das Mädchen das Zimmer verlassen hatte. Dann sprang sie auf und rannte an das große Blumenfenster. Es war ein Hinstürzen voller Verzweiflung.

Was sie gesehen hatte, blieb . sie sah einen grauen Tag, eine graue Straße, graue Häuser, einen grauen, bleiernen Himmel, graue Menschen. Auch als sie die Brille abriß, blieb es grau . ein Tag zwischen den Zeiten, ein Übergang von Nacht zum Licht, aber noch mehr Dunkelheit als Helle. Die Menschen aber, die grauen, frierenden Menschen auf der grauen Straße vor den grauen Häusern hatten luftige Kleider an, die Männer liefen in offenen Hemden um-her ... sie sah, wie ein Mann stehenblieb, gegenüber der Apotheke, ein Taschentuch herauszog und sich seufzend über das Gesicht wischte, ein von der Hitze erschöpfter Mensch, grau in grau, ein schwitzendes Gespenst.

Das Entsetzen in Luise war so groß, daß sie keinen Laut geben konnte . sie lehnte an der Wand, starrte in den grauen Tag und spürte jetzt wieder das Brennen und Jucken in den Augen, das sie schon gestern gereizt hatte, ohne es zu beachten. Aber so versteinert sie in diesen Minuten war, so stark war der Gedanke, der - in Grauen und Angst eingepackt - ihr ganzes Wesen überrannte: »Die Augen . sie werden wieder trüb . sie verlieren das Licht. Ich werde wieder blind . blind . blind.«

Der Zustand völliger Erstarrung war nur kurz, aber für Luise war es, als läge sie stundenlang in einer Eiswanne. Sie hob langsam die Hand und deckte sie über beide Augen. Dann ließ sie sie wieder fallen und sah erneut aus dem Fenster. Das Bild blieb.

Ein grauer Herbsttag.

Es war, als zögen Zentnergewichte ihre Beine auf den Boden, als sie versuchte, vom Fenster wegzukommen. Mühsam schleppte sie sich zurück ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett, träufelte Antibiotikatropfen in die Augen und drückte dann die Lider fest zusammen. So lag sie eine Weile mit geschlossenen Augen, die Tropfen kühlten und brannten zugleich, und sie wagte nicht, die Lider wieder zu öffnen und vor den Fenstern den trüben Himmel zu sehen, der in Wahrheit fahlblau war und vor Hitze glühte.

Ob es eine Stunde war, die sie so in stummer Angst auf dem Rücken lag, wußte sie nicht. Sie hörte das Hausmädchen weggehen, einkaufen für das Mittagessen. Heute war Markttag, Else würde also länger bleiben, denn auf dem Marktplatz trafen sich die Mädchen und benutzten den Einkauf zum Austausch von Informationen und Erlebnissen vom vergangenen freien Sonntag. Dahlmann kam auch vor Mittag nicht zurück, wie er gesagt hatte. Es war jetzt auch unwichtig geworden, wo er hingegangen war und was er wieder vorbereitete. Das Grauen überdeckte alles, was bisher noch für Luise ein Inhalt ihres Lebens gewesen war, vor allem die Rache an ihrem Mann ... das Grauen einer neuen Blindheit, von der es keine Rettung mehr geben würde, die endgültig war, bei der auch Professor Siri nicht mehr helfen konnte. Eine wirkliche, ewige Nacht -

Luise sprang vom Bett, noch immer mit geschlossenen Augen, und tastete sich zu einem der Fenster. Sie schob die Gardine zurück, lehnte die Stirn an die warme Scheibe und preßte die Fäuste gegen das Herz.

Sieh hin! Gab sie sich selbst ein Kommando. Mach die Augen auf! Sieh dir den sonnigen Tag an. Du siehst ihn ja . du siehst ihn . es war eben nur eine Schwäche der Augen . du wirst nicht wieder blind . es ist alles vorbei. Du siehst das Leuchten der Sonne, das Flimmern der Luft über dem Straßenasphalt... alles, alles siehst du.

Sie riß die Augen auf und starrte hinaus.

Ein Herbsttag. Grau in grau.

Schnell schloß sie die Augen wieder und zuckte mit dem Kopf vom Fenster. Es hat keinen Sinn, vor der Wahrheit zu flüchten, sagte sie sich, aber die Panik, die in ihr aufkam, war stärker und verscheuchte alle Vernunft. Sie lief im Schlafzimmer auf und ab, die Augen bis zu einem Spalt geschlossen, mit ringenden Händen und vor Angst trommelndem Herzschlag.

Was soll ich tun, dachte sie immer wieder. Mein Gott, hilf mir, hilf mir. Was soll ich tun?! Wenn ich jetzt wirklich blind werde, ist alles zu Ende. Ich könnte es nicht mehr überleben, ich hätte einfach nicht mehr die Stärke dazu.

Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich ans Fenster. Immer wieder begann sie, ihre Augen zu testen, und immer wieder brach sie ab, wenn sie merkte, wie wenig von der Umwelt noch in ihr Sehbewußtsein kam.

Die rote Blüte einer Kaktee war zwar dunkler als die Blätter, aber nicht mehr rot. Der schöne helle Isfahanteppich mit den blauen und rosa Blütenranken war ein großer graubrauner Fleck, auf dem die Blumen fahl und leblos lagen, als seien sie mumifiziert. Jetzt erst fiel Luise auf, daß sie schon vor drei Tagen verwundert durch ihre dunkle Brille geblickt hatte, als das Mädchen zum Abendessen Tatar angerichtet hatte und ihr das sonst frische, durchgedrehte, hellrote Fleisch merkwürdig alt und graulich vorkam, so, als habe es schon zwei Tage herumgelegen. Aber da sie ja nichts sehen durfte, aß sie davon und fand es trotzdem frisch und saftig, ganz anders, als es aussah. Damals hatte sie sich nichts dabei gedacht, es auf das Fleisch geschoben . jetzt wußte sie, daß schon vor zwei Tagen ihre Augen begonnen hatten, ganz langsam wieder den Schleier vor eine Welt zu ziehen, die sich in den letzten Monaten vor der sehenden Blinden als eine Zusammenballung von Gemeinheit und Intrige enthüllt hatte.

Luises Erschrecken und Ratlosigkeit dauerten über eine Stunde. Sie hörte das Mädchen vom Markt zurückkommen, früher als erwartet. Es stellte in der Küche das Radio an und sang die Schlager mit. Auf dem Markt mußte eine sehr zufriedenstellende Unterhaltung stattgefunden haben.

Es muß etwas geschehen, dachte Luise. Es muß sofort etwas geschehen. Aber wie? Ob Robert Sanden einen Weg weiß ... er war jetzt der einzige, der helfen konnte, weil er der einzige war, der wußte, daß sie sehen konnte.

Sie setzte die dunkle Brille wieder auf und schlich aus der Wohnung. Leise zog sie die Tür hinter sich zu . das Radio und Elses etwas quäkender Mitgesang überdeckten alle Geräusche. Dann rannte sie die Treppe hinunter, verließ das Haus durch den hinteren Privatlaboreingang und lief bis zum nächsten Taxenstand.