»Zum Stadttheater«, sagte sie, als sie sich auf den Rücksitz warf. »Bitte schnell -«
»Probe verpaßt, was?« Der Taxifahrer grinste. »Na, woll'n mal sehen, ob wir den zweiten Akt noch retten.«
Es war kurz vor zehn Uhr morgens. Luise sah es auf der Uhr, die über dem Geschäft eines Optikers hing.
Um zehn Uhr stand Ernst Dahlmann im Büro einer großen Fluggesellschaft an der Theke und verhandelte für eine Buchung nach Zürich. Alle Maschinen waren für eine Woche im voraus ausgebucht.
Dahlmann bot die doppelte Passagesumme als Äquivalent, wenn es gelingen würde, doch noch einen freien oder zurückgegebenen Platz für übermorgen auf seinen Namen zu buchen.
Um zehn Uhr hatte der dicke Faber in seinem Zimmer in der Mordkommission einen Stapel Briefe durchgelesen und fand es an der Zeit, nach dieser schönen Arbeit zum zweitenmal zu frühstücken. Schinken mit Ei und eine Pulle Bier. Was er gelesen hatte, war ein kleiner Roman in Briefen, eine Liebesschnulze, wie sie nur der Alltag schreiben kann, mit Küßchen und Schätzchen, Sehnsucht und Treueschwüren, Ermahnungen zur Bravheit und Erinnerungen an Gemeinsamkeiten.
Ein Briefroman über eine verbotene Liebe, über eine Sünde zuviel. Kriminalsekretär Erich Papenrinck hatte den kleinen Briefstapel bei der Haussuchung im >Grünen Krug< unter der Matratze Monika Hortens gefunden und damit des dicken Fabers Vermutung bestätigt, daß in dem Heidekrug der Schlüssel zum Verschwinden Monikas zu finden wäre.
Nun lag dieser Schlüssel vor Faber, eindeutig und unleugbar. »Unsere Nächte waren heller als die Tage.« stand da.
Um zehn Uhr stand Robert Sanden auf der Probebühne auf einem Podest und wartete auf sein Stichwort. Er spielte den Puck im >Sommernachtstraum< zum erstenmal. Vor ihm zankten sich in ihrer Rolle Oberon und Titania. Gleich mußte sein Auftritt kommen, zwar nur ein Satz, aber es kam darauf an, wie man diesen Satz sprach -
»Rund um die Erde zieh ich einen Gürtel in viermal zehn Minuten...«
Robert Sanden freute sich auf diese Puck-Rolle. Sie war fröhlich, quicklebendig, voller Lebenslust, so, wie er sich selbst im Inneren fühlte, seit er wußte, daß er Luise Dahlmann liebte, und seit der Befreiung von dem inneren Druck, nachdem er es ihr gesagt hatte.
Ein Sommernachtstraum . für ihn konnte er Wahrheit werden.
Zehn Uhr vormittags. Ein Zeitpunkt, an dem vier Schicksale zusammentrafen, ohne es zu merken.
Es dauerte ziemlich lange, bis sich der Bühneneingangsportier erweichen ließ, Robert Sanden in der Probe zu stören. Bei Ernst Dahl-mann hatte es damals überzeugendere Argumente der Dringlichkeit gegeben ... die Versicherung einer Dame, daß es wichtig sei, war noch kein Grund, den Sommernachtstraum zu stören.
»Warten Sie bis elf Uhr, da ist Probenpause«, sagte der Portier und starrte auf das Anschlagbrett mit den Probezeiten. »Ich kann doch nicht zur Bühne durchläuten und sagen: Unten steht eine Frau, die will unbedingt Herrn Sanden sprechen. - Der Intendant wirft mich 'raus.«
»Verlassen Sie sich darauf. es ist wichtig.« Luise umklammerte den Rahmen des Schiebefensters, hinter dem der Portier wie der Wächter vor einem Paradies thronte. »Sie könnten Unannehmlichkeiten haben, wenn Sie Herrn Sanden nicht rufen!«
Der Portier schob die Unterlippe vor. Sie droht, dachte er. Auch das noch! Sie droht mir!
»Elf Uhr Probenpause!« sagte er stur und schob das Fenster zu.
Luise trommelte mit den Fingern gegen das Glas. Der Portier nahm die Tageszeitung hoch und las. Auf der Seite, die Luise entgegenleuchtete, las sie in großen Buchstaben: Wieder eine Steuererhöhung?
Als sie das Klopfen und Trommeln nicht aufgab, beugte sich der Portier vor und riß das Fenster wieder zur Seite.
»Wenn Sie keine Frau wären, Sie.«, schrie er.
»Aber ich bin eine! Und ich muß Herrn Sanden sprechen.«
»Wer sind Sie denn überhaupt?!«
Und da sagte Luise Dahlmann etwas, was sie nie gesagt hätte, wenn die Panik ihr nicht das Herz bis zur Kehle getrieben hätte.
»Ich bin Herrn Sandens zukünftige Frau.«
»Was?!« Der Portier steckte den Kopf durch das Schiebefenster und starrte Luise an. »Davon weiß ich ja noch gar nichts.«
»Das ist wirklich tragisch! Aber ich bin's. Kann ich nun zu Herrn Sanden?«
»Ich ... ich lasse ihn herausrufen.« Der Portier fiel auf seinen Stuhl zurück. Der Sanden, dachte er. Sieh an. Man hat immer gedacht, der ist brav und nur auf der Bühne ein Lüstling. Und nun.? Da sieht man wieder, wie man sich täuschen kann. Zieht sich eine ver-heiratete Frau an Land. »Was soll ich sagen?« fragte er.
»Luise ist da.«
»Luise?«
»Ja.«
»Das genügt?«
»Völlig!«
»Glauben Sie?«
»Ich weiß es.«
Der Portier hob die Schultern. Nennt ihren Namen nicht, dachte er. Schon verdächtig! Eine schlüpfrige Sache, das alles! Aber wenn man über dreißig Jahre beim Theater ist . nein, da erschüttert einen nichts mehr.
Er rief zur Probenbühne hinauf und ließ es sich nicht entgehen, dies mit folgenden Worten zu tun: »Hier ist eine, die Luise heißt und den Sanden sprechen will. Jawohl, nur Luise . das genüge, meint sie.« Dabei räusperte er sich, als habe er eine Kröte im Hals.
Luise achtete nicht darauf. Sie ging vor dem Glaskasten des Portiers hin und her, die Hände ineinander verkrampft, den Kopf gesenkt. Der Portier beobachtete sie mit hängenden Mundwinkeln.
Nervös ist sie, dachte er. Sehr nervös. Schlechtes Zeichen. Sieht aus, als wenn sie ein Kind von dem Sanden bekommt und gleich hier eine Szene abrollt, die nicht von Shakespeare ist. Er steckte den Kopf wieder durch das Fenster und hustete. Luise drehte sich um.
»Er kommt sofort.«
»Das habe ich doch gesagt.«
Es gab keine Szene, als Robert Sanden die Treppe heruntergerannt kam und mit ausgebreiteten Armen auf Luise zuging.
»Laß uns irgendwo hingehen«, sagte Luise leise, als er vor ihr stand. Der Portier, der mit langen Ohren an der Scheibe saß, hörte nichts als einen Hauch von Stimme. Gemeinheit, dachte er. Infamie! Einem kleinen Mann nicht einmal das zu gönnen.!
»Ich habe Probe, Luise.« Sanden hielt beide Hände Luises fest.
»Du mußt mitkommen. Ich brauche dich. Ich . ich . verliere wieder mein Augenlicht.«
Robert Sanden nahm diesen Schlag mit einer bewunderungswürdigen Haltung hin. Nur seine Lippen zuckten, und seine Bak-kenknochen bohrten sich durch die Haut.
»Komm.«, sagte er leise und legte den Arm um Luises Schulter. »Gehen wir zu mir.«
»Die Probe.«, rief der Portier aus dem Glaskasten, als er sah, daß Sanden das Theater verlassen wollte.
»Sagen Sie Herrn Mohreg, er soll meine Rolle markieren. Ich bin in einer Stunde wieder da . es ist wichtig.«
Der Portier grunzte und schob das Fenster zu.
Wichtig. Was? Er hatte nichts von dem Flüstern verstanden. Also doch ein Kind, dachte er. Warum sonst so eine Geheimnistuerei?! Es ist immer dasselbe mit den Künstlern ... auf der Bühne Helden, und im Leben rutschen sie aus -
In der Wohnung Sandens konnte Luise endlich weinen. Hier fühlte sie sich geborgen, hier war ein Mensch, der mit ihr fühlte, der sie liebte und den sie auch zu lieben begann. Hier fiel alle Starrheit und Stärke von ihr ab ... sie warf sich auf die Couch, verbarg das Gesicht in den Kissen und weinte haltlos und laut.
Robert Sanden ließ sie weinen. Er saß vor ihr, umklammerte ein Glas mit Whisky und sah auf den zuckenden Kopf mit den dunklen Locken. Die Mitteilung, daß Luises Augen wieder dunkler wurden, hatte ihn getroffen wie ein tödlicher Schuß. Erst jetzt kamen ihm alle Konsequenzen einzeln zum Bewußtsein, die eine neue Blindheit, und diesmal eine endgültige, auslösen mußte und würde.